Nun da sich der Sommer unaufhaltsam seinem Ende entgegenneigt, der Brieftaubenstreik beendet ist und auch das Telegraphenamt wieder arbeitet, erhalten Sie heute zur Überraschung unserer Autorin anstelle einer regulären Postwurfsendung die dritte Depesche aus dem Freien Königreich Xarelien.
Anders als – vor langer Zeit – in der zweiten Depesche angekündigt, wenden wir uns allerdings nicht der Kunst-, sondern der Tierwelt Xareliens zu. Wobei die Kunst am Rande durchaus auch eine Rolle spielt.
Die Mondseequallen, auch Mondmedusen genannt, kommen ausschließlich im Mondsee, einem Bergsee im Westen des Freien Königreichs Xarelien vor. Das sommerliche Schauspiel ihres Paarungstanzes lockt Jahr für Jahr Biologen aus aller Welt an.
Quallen, im wissenschaftlichen Sprachgebrauch Medusen genannt, sind, anders als meine geneigte Leserschaft vielleicht glaubt, keine eigenständige Tierart, sondern ein bestimmtes Lebensstadium der Nesseltiere. Diese durchlaufen als Polyp ein festsitzendes Stadium, das sich vom freischwimmenden Medusen- oder Quallenstadium unterscheidet.
Die meisten Quallen leben im Meer, es gibt jedoch auch einige Süßwasserquallen. Zu diesen zählen die Xarelischen Mondseequallen, deren ausschließlicher Lebensraum der ca. sechsundvierzig Quadratkilometer große und an manchen Stellen zweihundertdreißig Meter tiefe, auf neunhundert Höhenmetern gelegene Mondsee ist.
Ähnlich wie im norwegischen Lurefjord hat sich im Mondsee eine von Quallen dominierte Lebensgemeinschaft herausgebildet. Fische wurden im Lauf der Zeit fast völlig verdrängt, was entscheidende Folgen für die Ökologie des Gewässers zeitigt.
Weshalb die Quallen ausschließlich dort zu anzutreffen sind, stellt die Wissenschaft vor ein Rätsel. Bislang konnte nicht nachgewiesen werden, ob die Quallen einst auch in den anderen Seen Xareliens beheimatet waren. Eine der plausibelsten, doch zugleich umstrittensten Theorien geht davon aus, dass die Mondseequallen im Urmeer lebten und ihre Polypen während einer der großen Eiszeiten in einem der Gletscher überdauerten, dessen Überrest der Mondsee ist.
Im Jahr 1850 reduzierten die Quallenpocken die Bestände drastisch und sorgten beinahe für ein Aussterben der einzigartigen Nesseltiere. Auf den Schirmen der verendeten Tiere waren gelbe Beulen sichtbar, die der rätselhaften Seuche ihren Namen gaben. Erst nach fast nach zwanzig Jahren hatte sich die Population so weit erholt, dass ihr Überleben gesichert war.
Die Mondseequallen sind Schirmquallen, deren Stoffwechsel ein pastellrosa fluoreszierendes Protein herstellt, das ihnen ein beinahe geisterhaftes Leuchten verleiht. Sie verfügen zwar über kein Herz, kein Hirn, kein Blut, dafür über ein hängendes Magenstück, an dessen Unterseite sich eine Mundöffnung befindet. Die Mondseequallen ernähren sich in erster Linie von Blaualgen. Ob sie in den tiefen Regionen weitere Pflanzen oder gar Larven anderer Seebewohner fressen, konnte trotz einer Unterwasserexpedition von Professor Dr. Nemo Krall vom Biologischen Institut der Ruprecht-Anton-Universität Magubia zum Grund des Mondsees nicht abschließend erforscht werden.
Zumeist sind die Mondseequallen in Schwärmen von mehreren tausend Tieren unterwegs. Die kalten Wintermonate verbringen sie in den tieferen Regionen des Mondsees. Vom Frühjahr bis in den Herbst steigen sie in den Nächten an die Wasseroberfläche, um dort Blaualgen zu fressen. Eine streng reglementierte Anzahl lizensierter Quallenfischer aus den umliegenden Gemeinden hat von Mai bis Ende Juli, der sogenannten Quallenblüte, die Erlaubnis, die Nesseltiere abzufischen.
Abgesehen davon, dass sie als einzige Quallenart in einem Bergsee auf über neunhundert Höhenmetern heimisch sind, macht vor allem das Paarungsverhalten der Mondseequallen einen großen Teil ihres Mythos aus. Denn es weist eine Besonderheit auf, die sie von allen bekannten Quallenarten unterscheidet.
Ebenso wie andere Leuchtquallen existieren die Mondseequallen in zwei getrennten Lebensformen. Zunächst als am Seegrund festgewachsener Polyp, der sich dort auf ungeschlechtlichem Wege durch Sprossung vermehrt. Sobald sich um ihn herum zu viele seiner Klone gebildet haben, und im Herbst die Wassertemperatur sinkt, bildet er Knospen aus, die sich als Larven (Ephyren) von ihm lösen, von der Wasserströmung hinfort getragen werden und sich über die Wintermonate zu den getrenntgeschlechtlichen freischwimmenden Mondseemedusen entwickeln.
Am Ende eines jeden Sommers, meist zwischen Mitte und Ende September steigen die paarungsbereiten Mondseequallen in die höheren Regionen des Sees auf, wo sie in reichen Jahrgängen weite Teile der gesamten Seeoberfläche mit ihren Schirmen bedecken. Die Mondseequallen geben Eizellen und Spermien ins Gewässer ab. Aus den befruchteten Eiern entstehen wiederum Larven (Planula), die auf den Seegrund sinken, wo sie sich bei geeignetem Untergrund festsetzen und zu Polypen differenzieren. Womit der Generationenwechsel der Mondseequallen abgeschlossen ist.
So weit, so quallentypisch.
Der Höhepunkt des Paarungstanzes beginnt, nachdem die Mondseequallen die Keimzellen in das Wasser abgegeben haben. Dann steigen sie nämlich von der Oberfläche des Sees in die Luft, wo sie sich mehrere Stunden im Wind wiegen, ehe sie verenden und abregnen. Dabei können sie vom Wind viele Kilometer von der Seeoberfläche auf die umliegenden Wiesen und Dörfer getragen werden.
Rings um das Seeufer finden während des Spektakels, das fast einen ganzen Monat andauert, in den Gemeinden Feste und Umzüge statt. Es werden für die anwesenden Biologen und Touristen Wanderungen zu umliegenden Almen organisiert, um von oben einen Blick auf die in der Luft schwebenden Mondseequallen zu haben. Schulen und Kindergärten beteiligen sich unter Anleitung der Quallenfischer an der frühmorgendlichen „Quallenernte“, dem Einsammeln der verendeten Tiere von Straßen und Gärten.
Wenngleich sich für gewöhnlich nur sehr wenige Mondseequallen in die flacheren Uferregionen verirren, ist das Baden im Mondsee von Anfang September bis Ende Oktober zur Hochphase des Paarungstanzes verboten. Wobei es natürlich immer wieder zu Zwischenfällen bei Bootspartien mit unvorsichtigen Touristen oder bei Mutproben der übermütigen Dorfjugend kommt. Auch werden den Mondseequallen oftmals das Verschwinden kleinerer Haustiere wie Dackel oder Enten nachgesagt. Da diese Meldungen stets während der Sommermonate auftreten und zumeist lange Artikel im Xarelischen Wolkenlüpfer und volksfestartige Suchkampagnen zur Folge haben, kann hier allerdings von einer Überbrückung des Sommerlochs ausgegangen werden.
Eine weitere kuriose Folge des Paarungstanzes, insbesondere des Abregnens der Mondseequallen in der Umgebung des Sees, ist der Umstand, dass nicht alle der verendeten Tiere aufgrund ihrer raschen Zersetzung eingesammelt werden können und so auf den Weidegründen der Bauern verrotten. Dabei gelangt das von ihnen produzierte fluoreszierende Protein auch in die Mägen der eigentlich weißen Ziegen dieser Gegend. Wodurch deren Winterfell von einer intensiven rosa Verfärbung gekennzeichnet ist.
Wie die meisten anderen Quallen haben auch die Mondseequallen lange, mit Nesselzellen ausgestattete Tentakel, die sie zum Greifen ihrer Beute und zur Verteidigung nutzen. Die Nesselzellen wiederum bilden ein giftiges Sekret, das durch Platzen der Nesselkapsel und Ausstülpung des Nesselfadens nach außen dringt. Dieses Nervengift ruft beim Menschen Verbrennungen, Hautrötungen und juckende Ausschläge hervor. Da die Tentakel sehr lange Gift absondern, ist es nicht ratsam, gestrandete Mondseequallen mit bloßer Hand anzufassen.
Noch heute ist das Gift aus den Tentakeln der Mondseequallen ein begehrter Rohstoff der Apotheker Xareliens, insbesondere zur Herstellung von Schmerztabletten und Schlaftropfen. Aber auch in der Kosmetik werden Teile der Quallen verarbeitet. Den Cremes und Tinkturen wird unter anderem nachgesagt, dank des fluoreszierenden Proteins, ein besonders glänzendes Hautbild zu verleihen.
Zuletzt stellt der Schirm der Mondseequalle eine besondere Delikatesse auf den Speisekarten der Wirtshäuser rund um den Mondsee dar. Ob vom Grill, aus der Pfanne oder als rosa simmernde Quallensuppe, werden die fluoreszierenden Gerichte traditionell bei gedimmter Beleuchtung oder im Dunkeln verzehrt.
Natürlich fasziniert und bewegt der Tanz der Mondseequallen seit jeher auch die empfindsam veranlagten Gemüter unter den Einwohnern Xareliens. Zahlreiche Mythen und Legenden aus alter Zeit ranken sich um die Nesseltiere. Zu den bekanntesten zählt dabei Die Mondmedusa, ein Volksmärchen aus der Region um den Mondsee. Jede Seegemeinde kennt eine eigenständige Version der Geschichte der Mondmedusa, einem neridengleichen Wesen, das sich in einen Fischer verliebt und diesen zuletzt in die Tiefen des Mondsees zieht und aus Trauer über sein Ertrinken ans Land tritt und dort verendet.
Auch in die bildende Kunst Xareliens haben die Mondseequallen Eingang gefunden. Erstes bekanntes und erhaltenes Werk dieser Art ist der Kupferstich Die Quallen von Alfons Dicker aus dem Jahr 1520. Desgleichen haben Künstler der Moderne wie der Impressionist Kajetan Maurer und der bekannteste Vertreter des xarelischen Jugendstils, Gasparin Klemmt, die Mondseequallen als beliebtes Sujet gewählt. Besondere Berühmtheit erlangte dabei das großflächige Gemälde Tanz der Mondmedusen von Maurer, das kurz vor der Jahrtausendwende für 17 Millionen Xarelische Gulden vom Königshaus an einen unbekannten südamerikanischen Privatsammler versteigert wurde, um die Renovierung des einsturzgefährdeten Westflügels des Schlosses zu finanzieren.
Mindestens ebenso berühmt sind die Ausmalungen Gasparin Klemmts im (stillgelegten) Delphinarium des Königlichen Zoologischen Gartens, die nach wie vor für die Öffentlichkeit zugänglich und aufgrund ihres festen Standorts wohl auch vor Verkäufen ins Ausland gefeit sind.
Die Schriftsteller Xareliens inspirierte der Tanz der Mondseequallen in gleicher Weise. 1803 erschien Janika Albins Das Kirchlein vom Nordanger, in dem sich die Autorin über die Geisterromane ihrer Zeit mokiert. Zentrale Figur dieses Werks ist die junge, durch übermäßige Lektüre von Schauerromanen weltfremde Käthe Mohr, die von einer Freundin der Familie zur Sommerfrische an den Mondsee eingeladen wird. Wo sie – als sie die Quallen aus dem See zu nächtlicher Stunde aufsteigen sieht – an Geistererscheinungen glaubt. Von diesem Erlebnis seelisch zutiefst erschüttert, fällt sie in eine Art Delirium und findet erst durch die Liebe zum Sohn der Hausherrin zurück in die wirkliche Welt. Der Roman endet mit der Verlobung der beiden, die sie durch das Versenken von Käthes liebstem Schauerroman im Mondsee besiegeln.
Natürlich beschäftigt sich auch Geheimrätin Henriette von Küfenstein in ihrem umfangreichen und überaus erbaulichen Oeuvre mit dem Tanz der Mondseequallen. Ihr Schelmenroman Die Quallenfischerin vom Mondsee war nicht nur das erste Werk aus ihrer Feder, das 1821 im Wochenblatt Der Ahornpavillon in Fortsetzungen veröffentlicht wurde, sondern er machte die gerade Zwanzigjährige mit einem Schlag berühmt. Zumindest innerhalb der Landesgrenzen des Königreichs. Thema des Romans sind die Irrungen und Wirrungen, die die gewitzte Loni, Tochter eines kürzlich verstorbenen Quallenfischers, bestehen muss, um eine eigene Lizenz zum Fischen auf dem Mondsee zu erhalten.
Selbst im Kunsthandwerk haben die Mondseequallen ihre Spuren hinterlassen. Die Quallenlampen, erstmals um 1920 von der Glashütte Doderer in Obenrabenreuth hergestellt, mauserten sich rasch zu einem Verkaufsschlager. Insbesondere die Nachttischlampen stehen in praktisch jedem Schlafzimmer Xareliens, da sie ein beliebtes Hochzeitsgeschenk darstellen und Glück und reichen Kindersegen bringen sollen.
Und damit endet die dritte Depesche aus dem Freien Königreich Xarelien. Wann die nächste in Ihrem elektronischen Briefkasten landet, steht noch in den Sternen, da unsere Autorin leider kein Talent für Vorhersagen hat. Falls Sie mehr über die Depeschen erfahren möchten, dann klicken Sie hier.
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