Im zweiten Kapitel sind wir mit der Drude Gryla im Gasthaus zur Gewürgten Gans eingekehrt und haben den Fuchs wiedergetroffen. Heute werden wir erfahren, wie es dem Exekutor Lohe von Belar nach seiner Begegnung mit jenem listigen Gesellen erging.
Vermerk der Innenrevision
Hier: Disziplinarverfahren des Exekutors von Belar aufgrund des Vorwurfs des Fraternisierens mit dem Alten Volk
27. Tag des Fünften Monats des Jahres 1181
Sachverhalt
Der Examinand Exekutor von Belar wurde mit Beginn des Sechsten Monats des Jahres 1180 zur Eindämmung akuten Ogerbefalls an die Garnison Jabluk abgeordnet. Im Zuge der Durchführung seiner Dienstaufgaben wurde er am 19. Tage des Sechsten Monats 1180 zur Inspektion einer in der Puszta ausgebrachten Koboldfalle gerufen. In dieser hatte sich nach übereinstimmender Aussage des Examinanden sowie der beiden Ulanen Ristić und Kosmar eine Kreatur des Alten Volkes verfangen, die als Werfuchs identifiziert wurde. Der Werfuchs bezauberte den Examinanden mit der Alten Sprache dergestalt, dass dieser die Falle aus Kaltem Eisen einschmolz und den Werfuchs daraus befreite. Das Eingreifen der Ulanen Ristić und Kosmar wurde vom Examinanden durch Einsatz magischer und körperlicher Gewalt verhindert. Die Kreatur entkam.
Der Examinand gab anschließend an, sich nicht an die Worte des Werfuchses erinnern zu können. Eine thaumaturgische Untersuchung in Bezug auf Korrumpierung durch Alte Magie durch Exorzisten Borko Orlov wurde ohne eindeutig belastendes Ergebnis durchgeführt.
Aufgrund eines Vermerks des Examinanden zu den Vorgängen an der Koboldfalle sah sich Major Zetters von der Garnison Jabluk genötigt, den Examinanden zu einem scharfen Duell zu fordern. Das Duell wurde durchgeführt am Morgen des 23. Tages des Sechsten Monats 1180, als Sekundanten waren Oberleutnant Ganters sowie der Koch der Offiziersmesse Mangelkramer bestellt. Major Zetters kam dabei zu Tode. Wie aus dem von den Sekundanten unterzeichneten Protokoll des scharfen Duells hervorgeht, ist dieses gemäß Paragraph 45 der Richtlinien zur Austragung von Ehrenhändeln ohne Beanstandungen verlaufen.
Bewertung und weiteres Vorgehen
Dem Examinanden Exekutor von Belar wird aufgrund der oben beschriebenen Vorkommnisse Fraternisieren mit Kreaturen des Alten Volkes vorgeworfen. Eine dienstrechtliche Untersuchung dieser erneuten Verletzung von Dienstpflichten aufgrund der Freisetzung des Werfuchses durch den Examinanden scheint dringend geboten.
Zudem ist aufgrund der Abstammung des Examinanden mit weiteren Verstößen gegen Dienstpflichten dieser Art zu rechnen. Eine Neutralisation ist darum zu prüfen und wird von der Innenrevision nach derzeitigem Sachstand befürwortet.
Es wird deshalb vorgeschlagen, den Examinanden bis zum Abschluss des Disziplinarverfahrens durch die Innenrevision vom Dienst zu suspendieren oder in den Innendienst der Grauen Wache in der Halbmondgasse zu Venia zu versetzen, da auf diese Weise bei weiterer Verletzung der Dienstpflichten ein rasches Eingreifen der Inquisition gewährleistet ist.
Der Examinand hat sich für Vernehmungen der Innenrevision bereitzuhalten.
In der Halbmondgasse
Sechster Monat des Jahres 1181 – Noch sieben Tage bis zur Sommersonnenwende
Das Bureau für Magische Angelegenheiten war ein Krake, dessen Arme in sämtliche Bereiche der Verwaltung, der Gerichtsbarkeit, der medizinischen Versorgung, der Verteidigung und zuletzt der Regierung hineingriffen. Seine Aufgabe war es, jeglichen Gebrauch der Magie zu reglementieren und zu organisieren. Zu diesem hehren Zwecke verfügte es über unzählige Magisterien, Dienststellen, Abteilungen, Ämter, Ordinationen, Kanzleien, Registraturen, Archive, Bibliotheken, Sektionen, Departements und Referate (letzten Schätzungen zufolge waren es an die siebenhundertdreizehn, doch inoffiziell mussten es einige hundert mehr sein), die wegen der landläufigen Heimlichtuerei der Magier und wegen des unbeschreiblichen Durcheinanders an Zuständigkeiten vom Volksmund schlicht unter dem Begriff »das Bureau« zusammengefasst wurden.
Die Dienststelle der Grauen Wache in der Halbmondgasse zu Venia zählte zu der Abteilung, die unter anderem mit der Verfolgung von Straftaten des Alten Volkes betraut war. Im Gegensatz zu den allermeisten Dingen, die die Magier betrafen, war es kein wohlgehütetes Geheimnis, dass die Graue Wache eines der toten Enden der Karriereleiter im Bureau darstellte. Die Übergriffe des Alten Volkes nämlich reichten von boshaften Streichen wie saurer Milch, dem Bösen Blick oder angelaufenen Spiegeln hin zu Schemen, die Friedhöfe unsicher machten, zu verschwundenen oder vertauschten Kindern und zu blutleeren Leichen. Egal worum es sich handelte, der Fahndungserfolg war stets gering, nicht selten endete der Exekutor – auch wenn er nicht in unwirtlichen Gegenden wie der Puszta oder an den Rändern finsterer Wälder stationiert war – lange vor seiner Pensionierung selbst als blutleere Leiche auf einem der Tische der Nekromanten. Und obendrein hatte man während der Vollmondnächte die gemeldeten Varulv in der Dienststelle zu hüten, damit sie sich nicht dem Blutrausch ergaben.
So verwunderten den strafversetzten Exekutor beim Betreten seiner neuen Wirkungsstätte weder der durchdringende Geruch nach feuchtem Werwolf noch die Kratz- und Bissspuren an den Wänden und Möbeln. Ebenso wenig beeindruckten ihn die spitznasige Sekretärin oder der Dienststellenleiter, der mit einer Verschlussmappe unter dem Arm auf dem Sprung zu sicherlich gewichtigen Dienstgeschäften gewesen war und nun Haltung angenommen hatte. Denn niemand geringerer als der Oberste Exekutor höchstpersönlich hatte Lohe von Belar in der Halbmondgasse abgeliefert. Was Lohe freilich nicht ahnte, war, dass eben dieser die kuriose Eigenheit besaß, gerne und oft unangekündigt auf den Dienststellen der Grauen Wache zu erscheinen, um einen Eichelkaffee zu trinken, einem Exekutor zum Geburtstag zu gratulieren und mit den Sekretärinnen zu schäkern oder um sich nach den laufenden Ermittlungen sowie ganz allgemein dem werten Befinden zu erkundigen. Und so überraschte Lohe die Begrüßung dann doch ein bisschen, die ungeachtet der dramatisch unterschiedlichen Hierarchiestufen äußerst herzlich ausfiel.
Seines fortgeschrittenen Alters zum Trotz war Randulf Romedius Ronwald ein stattlicher Magier, dessen bloße Anwesenheit für gewöhnlich jeden Raum bis zum Bersten mit Energie ausfüllte und dem man dank seines kräftigen Händedrucks durchaus zutraute, dass er nach wie vor, falls nötig, eine Striege oder gar einen Troll niederzuringen vermochte. Der Eindruck wurde durch den blitzenden Bergkristall verstärkt, der mithilfe einer alchemistischen Kupferhaltung in der linken leeren Augenhöhle steckte, angeblich Trugbilder der Alben zu durchschauen vermochte und ein verlässliches Zeichen dafür war, dass der Oberste Exekutor einmal ähnlich wie Lohe den ungezähmten Kreaturen des Alten Volkes im Außendienst gegenübergestanden war. Aus dieser Zeit musste auch der schartige Säbel aus Kaltem Eisen stammen, den Randulf Romedius Ronwald stets am Gürtel trug.
Wahrscheinlich machte der zartgliedrige, drahtige Lohe, der sich – kaum dass sie die Schreibstube betreten hatten – hinter Randulf Romedius Ronwald mit verschränkten Armen gegen die Wand gelehnt hatte und die Szene aus funkelnden Bernsteinaugen beobachtete, deshalb einen solch ungünstigen Eindruck auf den Dienststellenleiter Korbinian Kratzler. Dem waren natürlich sogleich der nachlässig gebundene Schlips, der fehlende Knopf am rechten Ärmelaufschlag des schiefergrauen Gehrocks und zuletzt die beiden Dolche aufgefallen, die Lohe anstelle der vorgeschriebenen Dienstwaffen trug und die obendrein keiner der bekannten Verordnungen entsprachen. Was auch für Lohes kohlenschwarzen Schopf galt, der in störrischen Büscheln von seinem Kopf stand und ihm einen höchst widerspenstigen Zug verlieh. Und als wäre all dies nicht genug, lag in seiner ganzen Haltung dermaßen viel unbewusster Stolz, in seiner blassen, makellosen Miene so unergründliche Gleichgültigkeit, dass Kratzler ganz entgegen seiner Natur unwillkürlich den Drang verspürte, seine Faust mitten in diesen Hochmut zu applizieren.
Randulf Romedius Ronwald stellte mit dergleichen jovialen Geste, mit der er zuvor den Dienststellenleiter begrüßt und diesem die Umlaufmappe mit dem Versetzungsvermerk überreicht hatte, nun den Neuzugang in der Halbmondgasse vor. Mit einer gewissen boshaften Freude bemerkte Lohe, dass sein neuer Vorgesetzter beim Klang seines Namens beinahe laut geflucht hätte. Fast musste er lächeln. Der ausgestreckten Hand des Dienststellenleiters nickte er nur knapp zu.
»Lohe, lass uns bitte kurz allein, ich möchte mit Exekutor Kratzler unter vier Augen sprechen«, sagte Randulf Romedius Ronwald gut aufgelegt und den Affront seines Schützlings ignorierend.
Lohe seufzte und trollte sich nach draußen.
Kaum war die Türe hinter ihm zugeklappt, konnte Kratzler nicht länger an sich halten und Lohe hörte ihn in der Schreibstube rufen: »Von Belar? Sagen Sie mir bitte, dass das nicht wahr ist.«
Lohe überlegte, ob er die leeren Zellen am Ende des Flurs oder die Sekretärin, die aus ihrem unvorteilhaften schiefergrauen Uniformkleid spitznasig zu ihm herüberblickte, näher in Augenschein nehmen sollte. Dann allerdings siegte seine Neugier und er lehnte sich gegen die Wand und sperrte die Ohren auf, die selbst Mäusetrippeln hinter meterdicken Mauern zu hören vermochten. Lohe brauchte sich nicht einmal große Mühe zu geben. Denn weder waren die Mauern der Dienststelle Halbmondgasse meterdick noch war der Dienststellenleiter leise wie eine Maus. Und so spielte Lohe mit dem Deckel seines Feuerzeugs und war gespannt, welche wenig schmeichelhaften Dinge er diesmal über sich zu hören bekam.
Der Oberste Exekutor erwiderte gerade heiter: »So viele von Belars gibt es nicht.«
Kratzler stöhnte und Lohe konnte es ihm nicht verdenken. Immerhin gab es nur einen Grund, wenn Angehörige der hochwohlgeborenen Linien – und die von Belars konnten ihren Stammbaum mindestens bis zum Hundertjährigen Krieg lückenlos zurückverfolgen – zur Grauen Wache versetzt wurden. Sie waren unselige, missratene Figuren, die woanders gehöriges Schindluder getrieben hatten.
»Und in welchem verwandtschaftlichen Verhältnis steht er zu den beiden?«
»Ziehsohn und Halbbruder«, sagte Randulf Romedius Ronwald und fügte eilig hinzu: »Seien Sie unbesorgt, Kratzler, weder die Magnifizenz noch der Fünfte Stellvertretende Großinquisitor erwarten von Ihnen besondere Rücksichtnahme. Im Gegenteil.«
Alles andere hätte Lohe auch sehr gewundert. Der Dienststellenleiter murmelte etwas, das er nicht recht verstand, weil es vom Geräusch der Umlaufmappe, die auf den Schreibtisch geworfen wurde und ein leeres Wasserglas umstieß, übertönt wurde. Der Tonfall allerdings klang ungläubig, geradezu höhnisch. Das Folgende war dagegen klar und deutlich zu vernehmen: »Sagen Sie mir ehrlich, wie kommt es, dass man bislang nie etwas von diesem Spross der hochwohlgeborenen Familie von Belar vernommen hat? Immerhin ist er im rechten Alter, sich wenn schon nicht bureaukratische, dann doch wenigstens als Pfand auf dem Heiratsmarkt genealogische Meriten zu verdienen.«
»Lohe ist ein komplizierter junger Mann. Ein Tunichtgut, wenn man so will. Er ist anders. Ihm fällt es schwer … sich einzufügen. Manchmal frage ich mich, ob es ihm je gelingen wird, da es nun einmal nicht in seiner Natur liegt.« Der angenehme Bass des Obersten Exekutors verstummte und unser Lauscher vor der Türe nahm das sanfte Knistern wahr, das davon herrührte, dass Randulf Romedius Ronwald sich nun versonnen über den Bart strich. Lohe unterbrach das Schnippen mit dem Feuerzeug und spannte sich an. »Er ist ein Wechselbalg … «
»Was?«, rief Kratzler entsetzt.
»Lohe ist ein Wechselbalg und hat das ungesunde Talent, in Schwierigkeiten zu geraten. Er braucht einen Schubs in die richtige Richtung. Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar, wenn Sie ihn bis zum Ende seines Disziplinarverfahrens ein wenig unter Ihre Fittiche nehmen könnten. Denn Sie haben doch ein Talent für … schwierige Charaktere.«
Dies war nun keine Bitte, sondern eine Dienstanweisung, und Lohe entnahm Kratzlers Schnauben, dass der Dienststellenleiter darüber noch unglücklicher war als über den Umstand, dass Lohe seiner Dienststelle zugeteilt worden war.
»Am besten lesen Sie in einer ruhigen Stunde seine Akte. Die ist durchaus spannend«, sagte der Oberste Exekutor zuletzt. Und da musste Lohe ihm recht geben.
Anscheinend war nun alles gesagt, denn die Türe zur Schreibstube schwang von unsichtbarer Hand geführt auf und Randulf Romedius Ronwald rief Lohe wieder herein. Der steckte das Feuerzeug weg und folgte widerwillig.
»Lohe, du wirst direkt mit Dienststellenleiter Kratzler zusammenarbeiten und allen seinen Anweisungen Folge leisten.« Der Oberste Exekutor sprach langsam wie mit einem Kind, das etwas schwer von Begriff war, und legte in jedes Wort seinen ganzen Willen. Das Kristallauge summte dazu. »Verstanden? Du weißt, was für dich auf dem Spiel steht. Vorteilhaftes Verhalten wird sicherlich wohlwollenden Einfluss auf das Ergebnis deines Disziplinarverfahrens haben.«
Lohe nickte gelangweilt, dieweil sein neuer Vorgesetzter – ein wenig grün um die Nase – die Umlaufmappe mit dem Versetzungsvermerk darinnen anstarrte, als handelte es sich dabei um ein auf ihn ausgestelltes Neutralisationsurteil der Inquisition.
»Hervorragend.« Zufrieden strich sich der Oberste Exekutor über den graugesprenkelten Bart und klopfte dem frischgebackenen Mitglied der Grauen Wache, Dienststelle Halbmondgasse, aufmunternd auf die Schulter. Dann grüßte Randulf Romedius Ronwald lediglich in die Runde und ging. Kratzler starrte Lohe an. Der starrte zurück, und es dauerte nicht lange, da musste der Dienststellenleiter den Blick abwenden. Zögernd nahm Kratzler die Verschlussmappe mit dem aufgebrochenen magischen Siegel zur Hand, die er vorhin unter dem Arm getragen hatte. Er schien sich nun daran zu erinnern, dass er eigentlich gerade dabei gewesen war, die Wache zu verlassen, als der Oberste Exekutor samt Geleit hereingeplatzt war. Kratzler wusste nicht, was er mit diesem aus heiterem Himmel aufgetauchten Ungemach anstellen sollte – außer dass er Lohe keinesfalls mit Yvonne Douceur, der spitznasigen Sekretärin, in der Dienststelle alleinlassen wollte. Deshalb beschloss er kurzerhand, Lohe auf seinem Dienstgang mitzunehmen.
»Kommen Sie, Belar. Wir haben eine von den Flussleuten entführte Waschfrau aufzutreiben.«
Lohe fand, dass er bereits einen ausreichend langen Tag hinter sich gebracht hatte. Wie sooft vor einem Ereignis, bei dem er tadellos und pünktlich zu erscheinen hatte, hatte er verschlafen und war ohne Frühstück, dafür mit einem neuen schiefergrauen Gehrock anstelle seines schmerzlich vermissten Dheamhanmantels in das Gewühl der Stadt Richtung Regierungsbezirk getrabt, wo die obersten Magisterien ihren Sitz hatten. Weil er bislang den überwältigenden Großteil seines Lebens außerhalb Venias verbracht hatte, hatte er sich prompt verlaufen. Die Häuser, die scheinbar sinnlos angelegten Straßen und insbesondere die vielen, vielen Geschöpfe hatten ihm sogar dergestalt die Sinne verwirrt, dass er über einen Aktenkobold gestolpert und dabei des Knopfes am rechten Ärmelaufschlag verlustig gegangen war. Die Versetzungsurkunde war ihm darum mit Verspätung von Randulf Romedius Ronwald in dessen Büro im Magisterium zur Bändigung und Bindung des Alten Volkes überreicht worden. Der frühere Weggefährte seines Ziehvaters und Patenonkel seines Halbbruders hatte es sich nicht nehmen lassen, den bureaukratischen Akt mit einem Sturzbach gutgemeinter mahnender Worte rund um das schwebende Disziplinarverfahren zu übergießen, der auch auf dem Weg zur Dienststelle in der Halbmondgasse nicht versiegt war.
Weshalb es Lohe am liebsten gewesen wäre, man hätte ihn nun in eine muffige Schreibstube gesteckt, ihm einen alten Aktendeckel in die Hand gedrückt und ihn wenigstens eine Weile in Frieden gelassen. Und ihn nicht an seinem ersten Tag ausgerechnet zu einem Besuch des örtlichen Flusses genötigt.
Abgesehen davon hätte er nun wirklich gerne gefrühstückt.
Bereits nach wenigen Schritten bemerkte Lohe anhand des Sonnenstands und des schwächer werdenden Geruchs nach Wasser, Schlick und Fischen (und dem Flüstern der Pflastersteine zu seinen Füßen), dass sie sich vom Fluss entfernten. Die Halbmondgasse war ein verschlungenes Knäuel, das sich, von der Altstadtinsel ausgehend, in Richtung des Sonnenaufgangs wand und zuletzt aus Venia hinausführte. Zu beiden Seiten der Gasse befanden sich schiefe Häuser, die zum Teil in atemberaubenden Winkeln zusammengewürfelt waren und deren Dachgebälk und tragende Wände an manchen Stellen wohl nur noch durch starke Zauber zusammengehalten wurden. Fast jedes dieser Häuser verfügte im Erdgeschoss über ein Ladengeschäft, in dem Lebensmittel, Schreibdienste und hier und da in den Hinterzimmern sicherlich auch unerlaubtes Zauberwerk feilgeboten wurde. Die Auslagen der Läden quollen aus den Geschäften hinaus auf die Straße, die vollgestopft war mit allerhand Menschen in unterschiedlichen Sauberkeitsgraden. Manchen von ihnen sah man zwar dank zu knolliger Nasen, langer Ohren oder zu vieler Zähne und Gliedmaßen an, dass sie auf die eine oder andere Weise einen Blutstropfen des Alten Volkes in sich trugen, dennoch konnte Lohe kaum Magie an ihnen ausmachen. Ihm schien sogar, dass die Halbmondgasse und die Gebäude magischer waren als deren Bewohner.
Zwischenzeitlich war er zu dem Schluss gekommen, dass Kratzler und er wohl die Verwandten der Waschfrau aufsuchten, um diese zu der Entführung zu befragen. Zwar lauschte er einigermaßen interessiert den Ausführungen seines neuen Vorgesetzten, doch behielt er alle Fragen für sich, aus dem einfachen Grunde, weil er spürte, dass sein Schweigen Kratzler nervös machte.
»Lohe. Was ist das für ein Name?«
»Meiner«, erwiderte Lohe, und Kratzler verlor beinahe seine Verschlussmappe, als er in ein Schlagloch stolperte, das dem Fußabdruck eines Trolls ähnelte. Allerdings wäre Kratzler nicht Dienststellenleiter der Grauen Wache geworden, wenn ihn nicht Geduld und Hartnäckigkeit ausgezeichnet hätten, und so versuchte er krampfhaft, ein Gespräch in Gang zu setzen, um mehr über das laufende Disziplinarverfahren herauszufinden. Doch an Lohes Einsilbigkeit hätte sich sogar ein mit allen Wassern der Verhörtechniken gewaschener Inquisitor die Zähne ausgebissen. Und spätestens als Lohe das silberne Feuerzeug zog, um wortlos mit einer grellen Stichflamme zu demonstrieren, welcher Art seine Abstammung war, verlegte sich Kratzler darauf, seinen Neuzugang von der Seite zu beobachten.
Lohe hatte alle Sinne auf die Halbmondgasse gerichtet und saugte das Geschehen in sich ein. Dazu jonglierte er mit der Linken schlafwandlerisch zwei rotbackige Äpfel in der Luft (die er nur an einem der Läden eingesteckt haben konnte). Anmutig bewegte er sich durch das Gedränge und wich sämtlichen Hindernissen so geschickt aus, dass es beinahe den Eindruck erweckte, als reagiere das Straßenpflaster auf seine Schritte.
Kratzlers magisches Talent bestand wie das der meisten Exekutoren darinnen, Blendwerk der Alben zu spüren und einigermaßen immun dagegen zu sein. Nun jedoch fragte er sich insgeheim, ob Lohe, da nur seine irritierenden Augen seine wahre Natur verrieten, nicht ein Trugbild um sich gewoben hatte, das ihn harmloser und menschengleicher erschienen ließ, als er tatsächlich war. Freilich hätte der Dienststellenleiter das Alte Wort sprechen können, das einen solchen Schleier zerriss, aber Kratzler fühlte eine unbestimmte Furcht davor, was er dahinter entdecken könnte, und obendrein schon wieder dieses gereizte Zucken in seiner Faust. Um sich von eben diesem abzulenken, fragte er: »Sind Sie nervös, Belar?«
»Nein. Warum?«
»Weil Sie mit Obst spielen. Das Sie vermutlich bei einem der Läden dort hinten gestohlen haben. Ich weiß nicht, wo Sie vorher eingesetzt waren, aber hier in Venia nutzen wir Bureaukraten unsere Position gegenüber dem Einfachen Volk nicht aus.«
Lohe grinste und ließ die inkriminierten Äpfel mit einer kaum wahrnehmbaren Handbewegung in einer Gehrocktasche verschwinden. In seinen schlanken Fingern tauchte stattdessen das silberne Feuerzeug wieder auf, mit dessen Deckel er nun schnippte. »Seien Sie nicht albern, Kratzler. Bureaukraten sind überall gleich. Nur weil Sie Ihre Position nicht ausnutzen, heißt das nicht, dass niemand sonst es täte.«
Woraufhin sie den Rest des Weges sehr zu Lohes Erleichterung endgültig in tiefstem Schweigen zurücklegten.
Die beiden Exekutoren folgten der Halbmondgasse hinaus vor die Tore Venias. Sanfte Hügel und Weinberge umgaben satt und grün die Stadt, das silbrige Band der Dunarea wand sich träge in einem weiten Bogen an fruchtbaren Feldern vorbei gen Osten. Die Last der Geschöpfe Venias und all dessen, was sie ausdünsteten, fiel von Lohe ab. Er atmete auf. Das Feuerzeug verschwand zurück in eine Gehrocktasche. Der Frühsommer hielt gerade Einzug, und Lohe versuchte, das Wispern des Klatschmohns rings um ihn her zu ignorieren. Genau wie das sanfte Summen der Landstraße zu seinen Füßen. Sie war mit denselben abgewetzten Steinen wie die Halbmondgasse gepflastert und etwa eine Elle im Erdreich versunken. Was ein untrügliches Zeichen dafür war, dass die Alben sie einst in den Tiefen der Zeiten ins Land getrieben hatten, und Lohe hatte das starke Gefühl, die Halbmondgasse und die Landstraße waren ein und dasselbe.
»Wohin gehen wir?«, fragte er schließlich, um sich davon abzulenken, dass die Alte Magie der Albenstraße ihm das Ziel längst zugeraunt hatte und seine scharfen Augen es obendrein bereits in der Ferne erspähten. Zudem hatte er vor langer Zeit gelernt, dass es besser war, Dinge gesagt zu bekommen, anstatt sie zu wissen, obwohl man sie eigentlich nicht wissen konnte.
»Wir suchen das Departement Spuk & Schrecken im Alten Friedhof auf«, antwortete Kratzler und fügte vorauseilend hinzu: »Dienstvorschrift.«
Lohe schnaubte, weshalb sich sein neuer Vorgesetzter offenbar genötigt fühlte, das spezielle Dienstprozedere der örtlichen Grauen Wache zu erläutern. »Bei allen Malefizhändeln, die von Kreaturen des Alten Volkes begangen werden, muss in Venia nach Paragraph 120 Absatz 2 zuerst eine Inspektion des Departements Spuk & Schrecken erfolgen.«
Das unzweifelhaft in einem Saligenfriedhof untergebracht war, dachte Lohe, obgleich er noch nie zuvor einen dieser Art gesehen hatte. Denn für gewöhnlich betteten die Saligen ihre Toten unter Dolmen und Obelisken, in Hügelgräbern und Steinkreisen zur Ruhe. Hier jedoch war eine kleine Stadt aus kunstvollen Mausoleen errichtet worden, die in einem Kreis links und rechts der Straße aufgereiht waren und zu einem hohen Rundbau in der Mitte hinführten. Sie alle waren vom Hinweggang der Zeiten teils verwittert, mit Efeu und anderen Pflanzen überwachsen, und auf ihren Rundbögen und Zinnen nisteten Raben. Die schwarzgefiederte Plage machte es unmöglich, sich unbemerkt zu nähern. Auch hatte Lohe den Eindruck, dass nicht allein die nachtschwarzen Augen der Vögel jeden ihrer Schritte beobachteten. Denn abgesehen von der Anwesenheit der Toten, deren Knochen zwar längst zu Staub zerfallen waren, deren Magie jedoch noch im Boden pulsierte und wie ein Echo in seinem Körper hallte, spürte Lohe zugleich und viel zu deutlich Leben in den Mausoleen. Tatsächlich hängte hinter dem nächsten Mausoleum eine Varulv mit stumpfem, struppigem Fell Wäsche auf eine Leine, die an zerbrochenen Marmorstatuen von schwermütigen Saligen festgezurrt war. An ihre bunten Flickenröcke klammerten sich drei Welpen und knurrten.
»Sei gegrüßt, Rupa. Ich hoffe, es geht euch allen gut.«
Die Varulv legte die Ohren an und fletschte als Antwort die Zähne. Kratzler war diese Art der Begrüßung wohl gewohnt, denn er winkte freundlich und fuhr mit weiteren Erklärungen für Lohe fort.
»Nach Paragraph 385 der Behausungsvorschriften für Abkömmlinge des Alten Volkes hat das Bureau den hier in der Hauptstadt siedelnden Schemen und Karnivoren Werwesen Unterkunft im Alten Friedhof zugeteilt.« Lohe bemerkte die Nummern, die an manchen Eingängen der Mausoleen angebracht waren – sei es mit Farbe, die aussah wie getrocknetes Blut, sei es mit rostigen Schildern. Er zweifelte keinen Wimpernschlag lang, dass die Saligen, die den Friedhof errichtet hatten, entweder alle längst selbst zu Staub zerfallen oder in den Hohen Norden gewandert waren. Ansonsten hätten sie die Zweckentfremdung durch das Bureau sicherlich als tödlichen Affront aufgefasst und Venia niedergebrannt. »Damit sind sie außerhalb der Stadt, aber immer noch nah genug, um ein Auge auf sie zu haben.«
Die Halbmondgasse führte direkt in den hohen Rundbau hinein, doch endete sie dort nur scheinbar. Hinter dem Mausoleum wand sich nämlich ein in das Erdreich koboldtief eingesunkener Hohlweg, der von einer dichten Hecke aus blühendem Holunder (wie immer verspürte Lohe den unwiderstehlichen Drang, höflich den Kopf zum Gruß zu neigen), Wacholder, Hundsrosen, Haselnusssträuchern, Walderdbeeren und Brombeeren gesäumt und vor den Augen der Sterblichen und damit auch vor den Augen der Magier des Bureaus verborgen wurde. Lohe warf Kratzler einen raschen Seitenblick zu, ob dessen Talent ausreichte, den Hohlweg wahrzunehmen. Doch der Dienststellenleiter ließ keinerlei Anzeichen dafür erkennen. Unser unseliger Wechselbalg dagegen konnte so viel blinzeln, wie er mochte, der Hohlweg lag klar und deutlich vor ihm, und er fragte sich unwillkürlich, wohin er wohl führen mochte.
Das Departement Spuk & Schrecken war noch schäbiger eingerichtet als die Dienststelle der Grauen Wache. Wurmstichig und windschief waren die Möbel offensichtlich aus anderen Abteilungen des Bureaus zusammengetragen worden, wo sie zuvor ihren Dienst quittiert hatten. Anstelle von magischen Lampen waren Fackeln an den Wänden entzündet. Und es roch noch deutlicher nach nassem Werwolf. Was dem Umstand geschuldet war, dass am Schreibtisch in der Mitte des Raumes ein ausgewachsener Varulv saß und die beiden Exekutoren knurrend begrüßte. Angespannt legte Lohe beide Hände auf die Griffe seiner Dolche. Die Fackeln loderten auf. Derweil reichte Kratzler, von den jeweiligen Drohgebärden unbeeindruckt, dem Varulv die Verschlussmappe. »Am Fluss wurde heute Morgen eine Waschfrau entführt«, sprach er mit beinahe fester Stimme. Lohe ließ die Dolche los und die Fackeln beruhigten sich wieder. Zögernd lehnte er sich neben einem klapprigen Aktenschrank an die Wand, sodass er seinen Vorgesetzten, vor allem aber den Werwolf im Auge behalten konnte.
Der klappte die Mappe auf und stieß die Wolfsschnauze in die Akte, dieweil Lohe sich fragte, ob der Varulv überhaupt lesen konnte. Offenbar konnte er es nicht, denn bereits nach einigen Augenblicken warf er die Verschlussmappe zu Kratzler zurück, der sie nur mit knapper Not auffing und anschließend den Sachverhalt vorlas. Sobald er damit fertig war, sagte er: »Wilk, du kennst die Vorschriften – sei so gut und ruf auch die anderen herbei, damit wir hier rasch fertig sind.«
Der Varulv verdrehte die Augen und stieß einen Laut zwischen Bellen und Knurren aus, gewürzt mit tiefster Verachtung. Dann warf er den Kopf in den Nacken und heulte hinter seinem Schreibtisch durchdringend, als stünde der Vollmond am Himmel. Sobald Wilk verstummt war, erhoben sich links und rechts der Halbmondgasse Stöhnen, Verwünschungen und allgemeines Missfallen. Lohe schaute hinaus. Aus den Mausoleen krochen, schlichen und schlurften: eine Handvoll Poltergeister und Ghûle; die Werwölfin mit ihren drei Jungen; einige Halblinge, denen man aufgrund ihrer spindeldürren, klapprigen Körper, den übergroßen Kiefern, die eine Überzahl an Zähnen beherbergten, und dem aschgrauen Haar eine nähere Verwandtschaft mit Striegen unterstellen musste; sogar Dhampire waren darunter. Angeführt wurde dieser Zug aus verlotterten Wesen von einer Gestalt, die sich von den Zehenspitzen bis zum Scheitel in einen zerknitterten, über den Boden schleifenden Morgenmantel aus blutrotem Samt gehüllt hatte und peinlich darauf achtete, vor dem Sonnenlicht verborgen zu bleiben. Es wurde bald klar, warum, denn sobald die Gestalt die Schatten im Inneren des Mausoleums erreicht hatte, warf sie den Morgenmantel zurück. Ein Vampir kam darunter zum Vorschein, der nun mit langen Schritten auf den Schreibtisch zusteuerte und sich dort anstelle von Wilk niederließ. Der Varulv bezog hinter dem Vampir Position und fletschte in Richtung Lohe die Zähne. Derweil glitt eine Dhampirin – ihr Nachthemd war beinahe ebenso durchscheinend wie ihre silbrig bläuliche Mondhaut – an ein Schränkchen mit schiefen Türen und zersprungenen Glasscheiben und holte dort eine bauchige Flasche hervor, aus der sie dickflüssiges Blut in einen angelaufenen Bronzekelch goss. Mit einer Verbeugung überreichte sie diesen dem Vampir. Der nahm den Kelch mit huldvollem Nicken und schnupperte genüsslich daran.
Kratzler ließ derweil den Blick über das versammelte Departement Spuk & Schrecken streifen. Lohe wurde klar, dass er durchzählte.
»Und wer ist dieser Wechselbalg?«, fragte der Vampir, woraufhin alle Mitglieder des Departements Spuk & Schrecken zu Lohe blickten, alle mit unterschiedlichen Abstufungen von Groll bis Ekel in den Gesichtern.
»Exekutor von Belar«, erwiderte Kratzler, dem die allgemeine Feindseligkeit nicht aufzufallen schien. Beim Klang des Namens hielt der Vampir, der erneut den Bronzekelch an seine blassen Lippen geführt hatte, inne. Er hob die dünnen Augenbrauen und zeigte seine Fangzähne.
»Von Belar?«, flüsterte er und musterte Lohe noch durchdringender mit schiefgelegtem Kopf. »Na, so was. Verwandt oder verschwägert? Sie sehen nicht wie ein von Belar aus.«
Ein unangenehmer Funken loderte in Lohes Bernsteinaugen auf und er schob das Kinn vor. »Ich komme nach meiner Mutter.«
Der Vampir lachte und griff nach der Verschlussmappe. »Das glaube ich nicht.« Und da Kassabian ganz offensichtlich im Gegensatz zu Wilk des Lesens mächtig war, begann er ausführlich die Akte zu studieren. Eine beinahe andächtige Stille senkte sich über das Mausoleum. Ein saftiges Knacken durchbrach sie: Lohe hatte in einen der geklauten Äpfel gebissen. Einige der Poltergeister begannen daraufhin, unruhig zu schwanken und zu heulen, die Dhampire zischten böse und ein Striegenhalbling knackte mit den Fingerknochen. Wilk knurrte und fletschte die Zähne. Der Vampir am Schreibtisch hob den Kopf und runzelte die Stirn. Als Lohe sich von alldem nicht beeindrucken und weiter seinen Apfel schmecken ließ, richtete Kassabian die starren kalten Augen wieder auf den Dienststellenleiter der Grauen Wache. »Die Flussleute haben also am helllichten Tag eine Waschfrau entführt.«
Kratzler, der verzweifelt versuchte, das Verhalten seines Kollegen und sein geräuschvolles Kauen zu ignorieren, um am Protokoll festzuhalten, nickte. »Das haben sie.«
Die Kieferknochen des Vampirs spannten sich merklich an, als er sich halb zum Varulv in seinem Rücken umdrehte. »Wilk, mein Lieber, ich fürchte, Rupa wird dir heute nicht gehackte Waschfrau servieren können. Wir wurden von den tapferen Exekutoren ertappt.«
Wilk bellte, die Dhampire kicherten, die Striegenhalblinge prusteten unangenehm, und Kratzler bemerkte zu seinem großen Ärger das amüsierte Lächeln in Lohes sonst so unbewegter Miene.
»Kassabian, Sie kennen die Dienstvorschriften. Die Graue Wache hat bei Malefizhändeln festzustellen, ob das Departement Spuk & Schrecken an diesen beteiligt ist.«
Der Vampir griff nach einem zerfledderten Federkiel aus der Schwungfeder eines Raben und zeichnete die Akte. Dann klappte er die Verschlussmappe zu und schürzte die Lippen, was einmal mehr seine Fangzähne offenlegte. »Wir haben Ihr Waschweib nicht, Kratzler.«
Kassabian winkte die Dhampirin im durchsichtigen Nachthemd herbei und übergab ihr die Verschlussmappe. »Iolana, Liebes, würdest du die beiden Herren Exekutoren bitte nach draußen begleiten? Ich denke, wir haben den Vorschriften Genüge getan.«
Die Dhampirin knickste, trat dann um den Schreibtisch herum und hielt Kratzler die Verschlussmappe hin. Der war zwar von dem offensichtlichen Rausschmiss wenig angetan, doch überspielte er dies gekonnt, indem er sich höflich bei Kassabian für die Kooperation bedankte, die Verschlussmappe entgegennahm und sich verabschiedete. Lohe hingegen äußerte sich nicht. Ihm behagte es nicht, den Mitgliedern des Departements Spuk & Schrecken den Rücken zuzukehren und hinter der Dhampirin zum Ausgang des Mausoleums zu gehen. Wie schon zuvor spannte er seinen Körper an und legte die Hände wieder um die Griffe seiner Dolche.
Bevor die beiden zurück ins Sonnenlicht traten, hielt die maliziöse Stimme Kassabians sie zurück. »Lohe von Belar«, rief der Vampir hinter ihnen drein, »ich kann das Blut an Ihren Händen riechen. Und sehe das Chaos, das Sie hinter sich herziehen.«
»Dann geben Sie gut acht, dass nicht auch Ihr Blut an meinen Händen zu kleben kommt«, erwiderte Lohe ungerührt und trat über die Schwelle zurück ins Freie. Kratzler folgte ihm eilig und mit zugeschnürter Kehle.
Die ersten Häuser Venias kamen bereits wieder in Sicht, als der Dienststellenleiter endlich befreit Luft holte. Auch wenn er noch nicht so recht wusste, wie er dies anstellen sollte, so musste und wollte er Lohe wegen des Apfels rügen. Was die kryptischen Abschiedsworte des Vampirs angingen, hielt er es für besser so zu tun, als seien diese niemals gefallen.
»Wir sind jetzt also den ganzen Weg hierhergekommen, nur um diese Schemen aus ihrem Schlummer zu reißen, damit wir sie fragen, ob sie eine Waschfrau festhalten oder verspeist haben, von der wir wissen, dass Flussleute sie entführt haben?«, erkundigte sich Lohe seidenglatt, ehe Kratzler sich eine Rüge wegen des Apfels hatte zurechtlegen können.
»Denken Sie, wir hätten unsere Zeit verschwendet?«, fragte der Dienststellenleiter und, weil er im Stillen selbst jedes Mal diesen Gedanken hegte, wenn er einen Dienstgang dieser Art zum Departement Spuk & Schrecken zu absolvieren hatte, schärfer als beabsichtigt.
»In Anbetracht der Tatsache, dass wir die Gelegenheit nicht genutzt und diesen Saligenfriedhof mit allem, was darinnen kreucht und fleucht, nicht niedergebrannt haben? Ja.« Lohe holte den zweiten Apfel aus seiner Gehrocktasche und beäugte ihn von allen Seiten. Federnden Schrittes ging er neben Kratzler her, die Bernsteinaugen fest auf die Stadt vor ihnen gerichtet. Er spürte bereits ihre sinnenverwirrende Wirkung und es kam ihm so vor, als würden sich zwei Städte vor seinem Blick zusammenschieben. Die eine erhaben und still, mit schlanken weißen Türmen, die an den Wolken zu kratzen schienen, die andere der wirre schmutzige Ameisenhaufen, der Venia nun einmal war.
»Warum haben wir den Saligenfriedhof eigentlich nicht niedergebrannt?«
»Das Departement Spuk & Schrecken ist ein Pilotprojekt des Magisteriums zur Bändigung und Bindung des Alten Volkes in Zusammenarbeit mit dem Institut für Folklore der Magischen Universität und der Gilde der Alchemisten«, sagte Kratzler mit einer Stimme, die Lohe verriet, dass er den kuriosen Umstand nicht zum ersten Mal zu erklären hatte. »Es geht darum, Schemen und Karnivore Werwesen für das Bureau nutzbar zu machen.«
Lohe, der gerade den Apfel am Ärmel seines Gehrocks hatte polieren wollen, hielt verblüfft in der Bewegung inne. »Bei allen Alben! Wozu sollen Blutsauger, Schemen und Werwölfe nützlich sein? Selbst das Alte Volk duldet diese Geschöpfe nicht in seiner Mitte.«
»Nun, ich kenne weder die magischen Bindungen noch die Alchemie, die dahintersteckt, aber soweit ich weiß, hat die Magische Garde großes Interesse an dem Projekt bekundet.«
Lohe ließ ein schwer einzuordnendes Brummen vernehmen, schwieg ansonsten jedoch.
»Das Bureau hat ja auch eine Verwendung für Wechselbälger gefunden, obwohl es genug Stimmen gibt, die sich nach wie vor dagegen aussprechen«, lenkte Kratzler ab, damit er keine Antworten auf Lohes Fragen geben musste.
»Ich mag den Vampir nicht.«
»Den mag niemand«, gab Kratzler seufzend zu.
»Das ist alles vollkommen absurd.« Lohe, der das letzte Jahrzehnt damit verbracht hatte, eben jene Kreaturen des Alten Volkes zu erlegen, ohne dabei von einer Striege den Kopf abgerissen zu bekommen, schüttelte eben diesen. »Genau wie die Suche nach dieser Waschfrau.«
»Was wollen Sie damit sagen, Belar?«
»Nun, Kratzler, sofern Ihre holde Maid tatsächlich von einem Nöck entführt wurde, dann befindet sie sich jetzt auf dem Grund der Dunarea in einem der Schlösser der Flussleute.« Lohe begann nun endlich, den Apfel am Ärmel seines grauen Gehrocks zu polieren. »Und dieses Schloss kann sich nahe der Quelle in den Wäldern Massiliens und Brekiliens im Westen oder genauso gut im Delta befinden. Das hinter den Östlichen Salzsteppen liegt.«
Kratzler schnaubte, doch Lohe war noch nicht fertig. Denn – meine verehrte Leserschaft mag es wohl schon bemerkt haben – hatte er einmal sein Schweigen gebrochen, dann gab es kaum noch etwas, das ihm Einhalt gebot. »Selbst wenn das Wasserschloss direkt vor den Toren Venias wäre – wie wollen Sie dahin gelangen, um die holde Maid zu retten? Der Zauber, der es erlaubt, unter Wasser zu atmen, ist recht kompliziert und, mit Verlaub, Sie erwecken nicht gerade den Eindruck, als ob Sie die dafür notwendigen Fähigkeiten besäßen. Oder sind Sie ein Wasserelementor?«
Dies war nun der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, und Kratzler gelang es allein mit heldenhafter Willensanstrengung, die rechte Faust tief in der Tasche seines Gehrocks zu vergraben. »Wissen Sie, Belar, ich kenne hochwohlgeborene Bürschchen wie Sie zur Genüge. Da brauche ich Ihre Akte gar nicht lesen. Sie wurden zur Grauen Wache versetzt, weil Ihre edle Familie hofft, dass Sie doch noch als blutleere Leiche in einem Rinnstein enden, bevor Ihr Disziplinarverfahren bearbeitet wurde, und man Ihnen wenigstens posthum noch eine Ehrennadel zuteilwerden lassen kann.«
Lohe biss in den Apfel und blickte seinen neuen Vorgesetzten kauend und unangenehm durchdringend an. Die Bernsteinaugen loderten dabei wie flüssiges Feuer. »Und ich kenne Magier wie Sie, Kratzler. Der siebte Sohn eines siebten Sohnes, geboren auf dem Misthaufen eines Ziegenhirten, der erste mit einem blassen Funken Magie in der gesamten Blutlinie und darum für das Bureau gerade einmal so viel wert, dass Sie als blutleere Leiche in einem Rinnstein enden dürfen. Ohne Ehrennadel.«
Womit Lohe tatsächlich ins Schwarze getroffen hatte, abgesehen von dem Umstand, dass Kratzlers Vater Schafe anstelle von Ziegen hielt.
»Wie lange sind Sie jetzt Exekutor der Dienststelle Halbmondgasse, Belar?«
Sie hatten den Rand Venias erreicht, vor ihnen entfaltete sich erneut das gesamte pittoreske Panorama aus wackeligen Häusern, Fuhrwerken und den farbenfrohen Bewohnern des Ostviertels. Lohe blieb stehen und warf einen Blick in den Himmel, um den Stand der Sonne zu prüfen. »Zwei Stunden?«
»Und Sie haben es schon geschafft, Ihren neuen Vorgesetzten mehrfach zu beleidigen.«
Unbekümmert zuckte Lohe die Achseln. »Dafür ist aber noch nichts niedergebrannt, niemand verletzt oder gestorben. Sehen Sie es positiv.«
Kratzler öffnete den Mund, wusste aber beim besten Willen nicht, was er darauf entgegnen sollte.
»Hören Sie, ich verschwinde jetzt in die Mittagspause und Sie gehen in Ihre Schreibstube zurück und verfertigen eine Abmahnung für mich und anschließend einen Vermerk über diesen vollkommen sinnlosen Spaziergang zum Departement Spuk & Schrecken. Ich bin mir sicher, danach fühlen wir uns beide besser.«
Sprach’s, verbeugte sich schwungvoll und ward sogleich im Gewühl auf der Halbmondgasse verschwunden, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Kratzler stand derweil wie vom Donner gerührt auf der Straße und wäre um ein Haar von einem Ochsenkarren überfahren worden. Seine Pflicht wäre es freilich gewesen, Lohe von Belar sofort aufzuhalten. Und für einen kurzen Moment überlegte er gar ernstlich, ob der Umstand, dass sein neuer Kollege ein Wechselbalg war, es ihm erlaubte, die Büchse zu ziehen und Lohe – trotz der vielen Menschen um ihn her – eine Eisenkugel in den Rücken zu jagen. Natürlich ließ er dies bleiben. Denn in Wahrheit war der Dienststellenleiter der Grauen Wache in der Halbmondgasse einfach nur froh, Lohe ziehen und hoffentlich nie wieder auftauchen zu sehen.
Dies war nun also das dritte Kapitel des Bureaus. Die nächste Postwurfsendung erscheint dann wieder am nächsten ersten Freitag des Monats.