Wie in der letzten Postwurfsendung angekündigt, landet heute das zweite Kapitel des Bureaus in Ihrem elektronischen Briefkasten. Es gibt ein Wiedersehen mit dem Fuchs und wir lernen die weibliche Hauptrolle kennen. Alle, die noch einmal das erste Kapitel lesen möchten, finden dieses hier.
Sechster Monat des Jahres 1181 – Noch acht Tage bis zur Sommersonnenwende
Das Gasthaus zur Gewürgten Gans im Spechtswald war allen Wanderern des Alten Volkes wohlbekannt. Es war im Stamm einer gewaltigen Eiche untergebracht, die wiederum mit anderen, nicht minder gewaltigen Eichen, in deren Fenstern zum Teil Werlichter und Irrwische flackerten, eine Lichtung umstand, auf der sich zwei Hohlwege kreuzten. Der eine von ihnen führte über Loreleis Felsen bis in die fernen Wälder Massiliens und Brekiliens im Westen und der andere verlor sich weit hinter Venia an einer umgestürzten Geleitsäule kurz vor den Östlichen Salzsteppen. Innerhalb der Mauern des Gasthauses galt der Alte Friede und obendrein war der Wirt – ein stolzer Faengg – auf eine strenge Auswahl seiner Gäste bedacht. Schließlich blieben Ruhe und Sicherheit am ehesten gewahrt, wenn Gesindel wie Dheamhan, Trolle und Striegen, Schemen, Elementargeister, Werwölfe, Halblinge oder Sterbliche gar nicht erst eingelassen wurde.
Zu dieser wohlbeleumdeten Restauration galoppierte – dem Nachtwinde gleich und trotz des fast vollen Mondes vollkommen mit der Finsternis verschmolzen – kurz vor der Albenstunde eine schauderhafte Schattenkreatur auf einem Nachtmahr dahin. Der nicht weniger schauderhaft als seine Reiterin war. Größer und massiger als ein Einhorn, Kelpie oder Pferd, mit zottiger Mähne und Schweif, vierzehigen Klauen statt Hufen und beeindruckenden Hauern, die wie bei einem Wildschwein aus seinem Maul ragten, erinnerte der Nykur (wie die Alben jene Biester nannten) an einen Sleipnir, jene sagenhaften, achtbeinigen Streitrösser der Disen von Skandia.
Vor dem Gasthaus zur Gewürgten Gans bremste der Nachtmahr schließlich scharf und die Drude, von der unsere Geschichte auch handelt, glitt von seinem Rücken und stürmte – sobald sie dem Nachtmahr einen Klaps auf die Hinterbacke verabfolgt hatte – auf die mit kunstvoll geschnitzten Eichenblättern und Häherfedern verzierte Türe des Gasthauses zu. Man kannte sich bereits von früheren Begegnungen, weshalb die Drude ihren Schwung nicht zu drosseln brauchte, sondern sich noch im Lauf in Rauch auflöste und durch das Astloch, das als Schloss diente, hindurchschoss. Derweil sie das tat, rüttelten die Bronzebeschläge der Türe und es war im Stamm der Eiche ein entrüstetes Knarren und Seufzen zu vernehmen, das nicht allein dem Wirt der Restauration den ungebetenen Gast ankündigte.
Gryla betrat den holzgetäfelten, teilweise mit Efeu überwachsenen, von abertausend Glühwürmchen beleuchteten, höhlenartigen Gastraum, dessen flüsterndes Schweigen den Zauber einer behaglichen Zuflucht verbreitete. Mit erhobenem Kinn und das einsetzende Geraune und Gezische ignorierend stolzierte sie an den Gästen vorbei. Während sie dies tat, verwoben sich die Bilder des Albtraums, aus dem sie einst geboren worden war, und die nun von Kopf bis Fuß unter der Porzellanhaut ihres ganzen nackten Körpers pulsierten, zu einem schwarzen, mehrfach und recht unbeholfen geflickten Mantel und einem Kleid mit hieb- und stichfester Lederkorsage. Das Kleid endete eine Handbreit unter ihrem Knie und legte so den Gutteil ihrer wohlgeformten Waden frei, die nun in hohen, speckigen Schnürstiefeln steckten. Zuletzt wand sich ihr rabenschwarzes Haar zu einem Knoten, der mit einem frostig glitzernden, gedrechselten Eisbärenknochen festgesteckt war. Ehe sie jemand aufhalten konnte, plumpste sie an einem der hinteren Tische auf einen freien Stuhl. Dort las ein einsamer Gast eine knapp zwei Wochen alte Ausgabe des Magischen Anzeigers aus Venia. Dank seiner Tracht, einer granitgrauen Kniebundhose aus so weichem Wildleder, einem weißen Hemd aus so zart gesponnenem Rentierhaar und einem mitternachtsblauen Kurzmantel aus so feingewalktem Loden, der am Saum mit so filigranen Kratzdisteln, Schneeflocken und Polarlicht bestickt war, dass sie nur aus der Hand der Disen stammen konnten, war er eindeutig als Bewohner des Hohen Nordens, genauer von Ghraonlainn, des nördlichsten und größten aller Kontinente der Anderwelt, auszumachen. Doch trug kein Alb diese edle Kleidung. Über den Rand der Zeitung lugten aufmerksam aufgestellte Fuchsohren, die Hände, die die Zeitung hielten, waren krallenbewehrt und schwarzbepelzt, aus den Kniebundhosen ragten ebenfalls schwarzbepelzte Pfoten hervor und zuletzt ringelte sich ein prachtvoller Fuchsschwanz auf seinem Schoß.
Der Róka – beim Alten Volk gemeinhin als »der Fuchs« bekannt – klappte für einen kurzen Moment die Zeitung herunter und hob zur Begrüßung die buschigen Augenbrauen.
»Wie ich sehe, hast du meine Nachricht erhalten.«
»Ich erhalte immer deine Nachrichten, Fuchs«, erwiderte die Drude, woraufhin der Fuchs die Lefzen zu einem Grinsen verzog und anschließend erneut hinter seiner Lektüre verschwand. Gryla blieb nichts anderes übrig, als die Schlagzeilen zu studieren. Diese befassten sich, wie so oft in den vergangenen Monaten, mit den immer häufiger werdenden Trollüberfällen im Süden und den daraus resultierenden Massakern in Dörfern und Kasernen. Außerdem starrte ihr das Konterfei des Erzmagiers Enno von Belar entgegen, der derzeit in Terenik in der Nähe der Östlichen Salzsteppen weilte, wo er die nekromantische Analyse dreier kopfloser Skelette beaufsichtigte, die dort – zusammen mit den Überresten eines rätselhaften zerbrochenen Artefakts und einer schartigen Streitaxt – vor fünf Jahren bei archäologischen Ausgrabungen zutage gefördert worden waren. Die leitende Archäologin war obendrein kurz nach dieser Entdeckung verschollen, was der ganzen Sache einen zusätzlichen bedrohlichen Nimbus verlieh. Gryla betrachtete die Abbildung des Bruchstücks, das inzwischen dem Museum für Magische Geschichte übergeben worden war. Es sah aus wie der Leib eines Lindwurms, dem Kopf und Schwanz fehlten. Gryla erschauderte.
Vielleicht lag es an der plötzlichen Furcht, die die Albtraumbilder auf ihrer Haut erzittern ließ, oder an ihrer Ungeduld, es dauerte jedenfalls nicht lange und sie hätte dem Fuchs am liebsten den Magischen Anzeiger aus den Pfoten geschlagen. Da unsere Drude aber keineswegs dermaßen töricht war, begann sie stattdessen mit den Fingern auf die blank polierte Tischplatte zu trommeln.
»Möchtest du etwas trinken?«, fragte der Fuchs, nach wie vor in die Zeitung vertieft. Ohne eine Antwort abzuwarten, schnipste er. Und nach wenigen Augenblicken tauchte der Wirt auf und knallte einen dampfenden Kelch Rotwein vor Gryla auf den Tisch. Er rollte wütend seine Schafaugen und die platte Nase zitterte aufgeregt. Dazu wackelte er mit den wolligen Ohren, als wollte er einen besonders lästigen Schwarm Fliegen vertreiben.
»Fuchs, du weißt …«
»Die Drude ist mein Gast, Tamas«, erwiderte der Fuchs hinter der Zeitung, und das heißere Knurren in seiner Stimme bedeutete, dass er keinen Widerspruch duldete. Der Alte Friede, der über der Eiche lag, schwankte unter dieser unverhohlenen Drohung. Der Faengg trat von einer Klaue auf die andere. Niemand im Alten Volk – selbst dann, wenn er über ausladende und ziemlich beeindruckende Widderhörner verfügte – legte sich ohne Not mit einem der Ewigen an. Selbst wenn es sich dabei nicht um einen Alb, sondern nur um einen Róka handelte. Gryla lächelte zufrieden, fuhr mit dem Zeigefinger über den Rand des Glases und erzeugte damit einen satten kreischenden Ton, der nicht allein den Gästen im Gasthaus zur Gewürgten Gans, sondern auch allen Bewohnern und Schläfern draußen in den Eichen kalte Schauer den Rücken hinunterjagte. »Ist da Taubenblut drin?«
Der Wirt bähte und warf den Kopf samt der schweren Widderhörner in den Nacken. »Aber natürlich, Quälgeist.« Damit drehte er sich endlich um und stelzte zurück hinter die ebenfalls mit geschnitzten Eichenblättern und Häherfedern kunstvoll verzierte Theke zu einer frühlingstaglieblichen Saligen, die Gryla feindselige Blicke zuwarf. Davon unbeeindruckt kostete die Drude einen Schluck Wein und beurteilte ihn als ausreichend süß. Während sie erneut nippte, schaute sie sich in der Gaststube um.
An einem weiteren Tisch hatte eine Handvoll Kobolde die Köpfe zusammengesteckt und flüsterte aufgeregt miteinander. Daneben spielten ortsansässige Faenggen Tarock und ein hutzeliges Wurzelweiblein schmauchte stillvergnügt in einer Ecke ein Pfeiflein. Zuletzt war noch ein zusammengewürfeltes Grüppchen Salige anwesend. Das einzige Element, das sie verband, waren die Häherfedern, die sie in ihr langes offenes Haar geflochten hatten und sie als Strauchdiebe Frau Hähers auszeichneten. Diese sagenumwobene Gestalt thronte inmitten ihrer bunten Schar, und Gryla vermutete, dass es am Alten Frieden liegen musste, dass sie die hohe Dame nicht sogleich bemerkt hatte. Sie war in der Vergangenheit bereits mehrfach mit ihr zusammengerumpelt und darum keineswegs erfreut, sich mit ihr unter einem Dach zu befinden. Selbst wenn unter diesem Dach der Alte Friede galt. Und weil die Saligen allesamt mit gar so versteinerten Mienen zu ihr herüberstarrten, streckte Gryla ihnen die nachtschwarze Zunge heraus. Woraufhin die Luft in der Gaststube bebte, der Efeu an den Wänden wie Espenlaub zitterte, die Glühwürmchen einen Wimpernschlag lang verglommen, der Alte Friede jedoch standhielt.
»Sei kein Tunichtgut und hör auf, die Saligen zu reizen, Gryla«, knurrte der Fuchs.
»Was musst du dich auch immer ausgerechnet hier in dieser ehrenwerten Restauration mit mir treffen?«, quengelte die Drude, um ihn endlich von seiner Zeitung loszueisen.
»Ich dachte, dir macht es Freude, die Regeln zu brechen«, entgegnete er. Ohne die Schnauze aus der Zeitung zu nehmen.
»Natürlich macht es mir das. Es wäre nur schön, wir könnten uns zur Abwechslung einmal in einem Lokal treffen, wo ich mir sicher sein kann, dass mir niemand in den Wein spuckt.«
»Diese ganzen fantastischen Lokale, von denen du sprichst, sind aber nun einmal nicht nur einen Steinwurf von meinem liebsten Tor in den Hohen Norden entfernt. Abgesehen davon hast du im Weinenden Eichhörnchen Hausverbot, weil du immer die Zeche prellst.«
Gryla seufzte und nippte an ihrem Wein. Da der Fuchs nach wie vor keine Anstalten machte, seine Lektüre zur Seite zu legen, erkundigte sie sich schließlich, was denn Spannendes darinnen stand. »Das Bureau hat in Arringen einen Anarchisten verhaftet«, brummte er, »und die Magische Garde hat vor etwa einem Monat Sidelhorn in Schutt und Asche gelegt.«
Gryla hatte davon bislang nichts mitbekommen. Ihr Schweigen veranlasste den Fuchs, für einen kurzen Moment die Zeitung herunterzuklappen, ihr überraschtes Gesicht zu mustern und zuletzt zu seufzen. »Die Saligen munkeln allüberall, das Bureau hätte Salamander und fliegende Schiffe eingesetzt«, erklärte er, bereits wieder hinter dem Magischen Anzeiger verschanzt.
»Haben sie das alte Miststück auch erwischt?«
»Die Erl? Nicht, dass ich wüsste.«
»Glaubst du denn, dass das wahr ist? Die Saligen neigen doch zu Übertreibungen.«
Der Fuchs ließ ein Knurren vernehmen. »Das mag sein. Trotzdem schmeckt mir das alles nicht. Das Bureau bastelt seit einer Weile an allerlei alchemistischem Kriegsgerät, das derart ausgefeilt und zerstörerisch ist, dass sie es unmöglich nur gegen die Freien Fürstentümer oder ihre anderen Nachbarn zum Einsatz bringen werden.«
»Du denkst, sie wollen die verbliebenen Saligenhöfe vernichten?«, fragte Gryla.
»Da müsstest du die Nornen fragen«, sagte der Fuchs, dieweil er endlich die Zeitung fein säuberlich zusammenfaltete und auf die Tischplatte legte. »Nun lass mich deine Beute sehen, sonst platzt du mir ja noch.«
Woraufhin Gryla dem Fuchs die rechte Hand unter die Schnauze hielt. Das Dornendickicht der Albtraumbilder auf ihrer Haut, das sich sonst nur träge mäandernd bewegte, begann einen fürchterlichen Reigen zu tanzen. Nach und nach lösten sich Rauchschlieren, schwebten einige Fingerbreit in die Höhe und formten sich zu einem festen, flachen Gegenstand. Zuletzt lag eine zerschrammte Bronzedose auf der Handfläche der Drude.
Es war in bestimmten Kreisen allgemein anerkannt, dass es bisweilen notwendig war, unorthodoxe Wege zu beschreiten, wollte man einen Gegenstand, der einem (noch) nicht gehörte, an sich bringen. Etwa weil sich der bisherige Besitzer partout nicht davon trennen mochte. Oder weil sich der fragliche Gegenstand an einem Ort befand, an dem er von eifersüchtigen Archivaren, Registratoren, Bibliothekaren, Universitätsprofessoren, Museumsdirektoren – kurz vom Bureau – verwahrt wurde. Steckte man in einer solchen Kalamität, dann wandten sich die meisten, die mit den Wegen des Alten Volkes vertraut waren, früher oder später an unsere Drude. Denn die Druden mit ihren speziellen Talenten kamen schließlich beinahe überall hin.
Der Fuchs schnappte nach der Dose und studierte eingehend das Diebesgut, vor allem die abgewetzten Zwergenrunen darauf (denn das waren die Kratzer und Schrammen in Wirklichkeit). »Gab es wieder Kollateralschäden, von denen ich wissen sollte?«
Und derweil Gryla darüber grübelte, ob es ein Kollateralschaden war, wenn sie das Oberhaupt des Freien Fürstentums zu Kaltenbach im Austausch mit der Dose aus der Aussteuer seiner Großmutter mit einem Albtraum gedrückt hatte, schraubte der Fuchs den Deckel besagter Dose ab und schnupperte hinein.
»Wie viele von den Dingern habe ich jetzt eigentlich für dich gestohlen?«
»Siebzehn.«
»Denkst du, es ist diesmal die richtige?«
»Wohl kaum.« Der Fuchs schraubte den Deckel wieder zu und betrachtete die Dose noch eine Weile von allen Seiten, bis er sie zuletzt in einer Innentasche seines Mantels verschwinden ließ. »Aber das soll Titania entscheiden.«
»Ich wette, Oberon, der alte Schlamper, hat längst vergessen, wie sie ausgesehen hat. Wahrscheinlich weiß das selbst der elende Zwerg Alberich nicht mehr. Der ist doch bloß noch aus reiner Gewohnheit tödlich beleidigt.« Der Fuchs hob tadelnd die Augenbrauen. Allerdings platzte Gryla, ehe er etwas entgegnen konnte, zu ihrer beider Überraschung hervor: »Nimmst du mich mit?«
»Wohin soll ich dich mitnehmen?«
»Die Libuše versucht seit einer Weile, eine Schuld einzutreiben«, erwiderte die Drude, obgleich sie ahnte, dass es wahrscheinlich ein Fehler sein würde, dem Fuchs diesen Umstand zu verraten. Schließlich neigte er dazu, die Geheimnisse anderer zu horten und dieses Wissen früher oder später auch zu nutzen. Abgesehen davon hoffte sie wirklich, dass er sie nicht danach fragen würde, wie sie in die Schuld der Libuše geraten war. Denn sie würde nicht lügen können. Der Anlass aber war so peinlich, dass der Fuchs sie ohne Zweifel ewig verspotten würde. Und die Ewigkeit konnte für Geschöpfe wie sie verdammt lang sein. Weshalb Gryla am liebsten alle Worte rückgängig gemacht hätte. »Wahrscheinlich hegt sie Rachegelüste in ihrem Herzen. Deshalb käme mir ein Rückzug in den Hohen Norden sehr gelegen.«
Nachdenklich kraulte der Fuchs den Pelz an seiner Kehle. »Du hast Schulden bei der Erl vom Sidelhorn? Warum hast du mir nichts davon gesagt? Mit diesen alten Alben ist nicht zu scherzen. Erst recht nicht, wenn sie nicht mehr Herr ihrer Sinne sind.«
»Es ist ja nicht nur das«, flüsterte die Drude, und als hätte ein Zauber ihre Zunge gelockert, offenbarte sie dem Fuchs eine weitere böse Ahnung, die sie seit einer Weile beschäftigte und die sie eigentlich lieber für sich behalten hätte. »Ich habe in letzter Zeit Albträume.«
Vor lauter gespannter Aufmerksamkeit zuckte der Fuchs mit den Ohren und Gryla sah ihm an, dass er sich nur mit großer Mühe zurückhalten konnte, zu fragen, was sie denn träumte.
»Das ist ja alles ganz bedauerlich, aber wie soll ich dir da helfen?«
»Ich will nach Hause«, sagte Gryla kleinlaut, und erst als sie die Worte aus ihrem Mund hörte, wurde ihr bewusst, wie sehr sie sich dies wünschte. Sehnsüchtig fuhr sie mit den Fingerspitzen erneut über den Rand des Kelches, woraufhin ein melancholisches Jammern in der Gaststube erklang und beinahe die Herzen der Gäste rührte.
»Ihr Druden seid mächtiger als ihr glaubt. Versuch, aus eigener Kraft dorthin zu kommen.«
»Soll ich durch das Nordmeer schwimmen?«
»Wenn ich mich recht erinnere, so kann dein Nykur in die Lüfte steigen.«
Das konnten Nachtmahre tatsächlich, denn sie waren Sturmgeister. Es war auch nicht so, dass Gryla es nicht versucht hätte, mit dem Nachtmahr über das Nordmeer nach Albion zu reiten. Doch der Nebel, den Disen und Sídhe, die Albenstämme des Nordens, um ihre Kontinente und Inseln einst legten, hatte die Sinne der Drude und des Nachtmahrs dergestalt verwirrt, dass sie ins Meer gestürzt und beinahe ertrunken waren.
»Oh, das ist natürlich Pech«, sagte der Fuchs und lächelte zähnefletschend dazu. »Aber du sollst nicht behaupten können, ich trüge ein Herz aus Eis in meiner Brust. Bring mir bis zur Sonnenwende etwas wahrhaft Wertvolles, und ich überlege es mir vielleicht.« Sein Blick fiel auf die zusammengefaltete Zeitung zwischen ihnen und er tippte mit einer Kralle auf die Zeichnung des zerborstenen Lindwurms im Museum für Magische Geschichte. »Wie wäre es hiermit?«
»Was willst du mit dem Gerümpel, Fuchs?«, fragte die Drude misstrauisch und wagte nicht, auf die Abbildung zu schauen. Der Fuchs zuckte leichthin die Schultern und sie wusste, sie würde keine Antwort von ihm erhalten. »Meinst du das ernst?«, fragte sie darum. »Dass du mich dann mit in den Norden nimmst?«
»So ernst wie ich nur sein kann.«
Gryla spürte, wie sich die verpflichtenden Bande eines vagen magischen Versprechens um sie und den Fuchs legten.
»Hab Dank für dein Versprechen, wenn die Zeit gekommen ist, werde ich dich daran erinnern, Fuchs«, sprach sie deshalb schnell die notwendigen Worte, um jene Bande zu besiegeln. Zugleich zweifelte sie keinen Moment daran, dass es dem Fuchs gelingen würde, sich aus dem Versprechen herauszuschwatzen, falls sich sein Sinn wandelte. Weshalb sie ihm auch keine Zeit ließ, etwas zu entgegnen. Sie verneigte sich rasch, winkte Frau Häher zu, auf deren Gesicht sogleich Mordlust zu Tage trat, und rauschte von dannen. Diesmal brauchte die Drude sich nicht in Rauch aufzulösen. Die Türe des Gasthauses zur Gewürgten Gans schwang vor ihr auf und fiel dann krachend ins Schloss zurück.
Der Nachtmahr war im Unterholz verschwunden. Gryla warf dem boshaften Kichern, das aus dem Geäst der Eichen zu ihr drang, finstere Blicke zu. Und obgleich sie also beobachtet wurde, lief sie zu einer derjenigen Eichen, in deren Fenster kein Licht brannte. Die Schnitzereien der Türe, die in das Innere des Baumes führte, waren von zarten Frostdisteln überzogen, von der Türklinke, einem Häher aus Bronze, hingen Eiszapfen herab. Es hieß, dass dahinter die Insel Akraberg lag, und Gryla glaubte, salzige Luft, Meeresrauschen und Möwengeschrei wahrzunehmen. Sie seufzte. Nicht jeder war fähig, auf den Hohlwegen der Alben zu reisen oder ihre Tore zu öffnen, und man raunte gemeinhin, man müsse hierfür mindestens einen Tropfen Albenblut in sich tragen. Ansonsten falle man auf jenen Pfaden (so man sie überhaupt fand) prompt dem Wahnsinn anheim. Denn die Hohlwege waren dergestalt zwischen Dolmen, Geleitsäulen und Grenzsteinen verankert, dass sie die Tiefe der Zeiten und die Wurzeln der Welt verschoben. Sogar Knick- und Knotenpunkte, die von rauschenden Meeresfluten getrennt wurden, verbanden sie miteinander. Doch waren die meisten dieser Verbindungen zwischen dem Norden und dem Süden von den Disen und Sídhe, als sie ihre Nebel spannen, gekappt worden. Weshalb nur noch die geschicktesten Grenzwandler des Alten Volkes sowie besonders vorwitzige Ziegen, Katzen, Eichhörnchen und Füchse die Handvoll offener Hohlwege nutzen konnten. Gryla zählte offenbar nicht dazu. Denn ihre magischen Fähigkeiten, die nur ein verdrehtes Zerrbild der Macht waren, über die die Alben geboten, hatten es bei keinem ihrer Versuche vermocht, einen der Hohlwege in den Norden zu öffnen. Und sie erinnerte sich mit Schaudern daran, was passiert war, als sie es gewagt hatte, den Häherkopf nach unten zu drücken, um auf den Hohlweg vor ihr zu gelangen.
Sie saß im Süden fest.
So kehrte sie der vereisten Türe den Rücken und trat auf den Hohlweg, der sie zurück nach Venia bringen würde. Je weiter sie lief und je länger sie über das halbherzige Versprechen des Fuchses nachdachte, desto unwahrscheinlicher erschien es ihr, dass sie es tatsächlich zu ihrem Vorteil würde nutzen können. Wieder seufzte sie schwer.
Die Drude war etwa eine halbe Stunde gewandert und überlegte gerade, ob sie nicht dem Nachtmahr pfeifen sollte, als hinter ihr in der Dunkelheit absichtsvoll ein Zweig knackte. Gryla fluchte. Sie hatte nicht mehr auf ihre Umgebung geachtet.
»Guten Abend, Quälgeist. Die Erl vom Sidelhorn wünscht dich zu sprechen«, sagte eine wohlklingende männliche Stimme und ließ die Drude herumwirbeln. Noch in der Drehung peitschen aus ihren Handgelenken schwarze Distelranken hervor, um als gezackte Dolche in ihre Hände zu springen. Dreizehn mattschimmernde Pfeilspitzen richteten sich in der Dunkelheit auf sie. Dazu glommen dreizehn kornblumenblaue Augenpaare.
»Sivaril«, zischte sie und rief nebenbei Angst und Schrecken aus den Schatten der nahen Felder herbei. »Die Erl scheint ja kein großes Vertrauen mehr in ihren liebsten Bluthund zu haben, wenn sie ihn gleich mit einem ganzen Rudel auf meine Fährte setzt.«
Ein hochgewachsener Saligenkrieger trat kalt lächelnd aus der Nacht und zielte weiterhin mit dem Bogen auf Gryla. »Spar dir dein Drudengetändel. Glaubst du wirklich, du könntest uns schrecken?«
Gryla war klar, dass sie es mit dreizehn verärgerten Alben nicht aufnehmen konnte – selbst wenn es lediglich Salige waren. Aber das hieß noch lange nicht, dass sie sich deswegen zurückzuhalten brauchte. Sie stieß ein markerschütterndes Kreischen aus, das die Menschen ringsum in den Dörfern aus dem Schlaf fahren und selbst die Saligen erschaudern ließ.
Gryla griff an. Sie war auf Blutvergießen aus.
Dies war also das zweite Kapitel. Das dritte wird an selber Stelle folgen. Die Autorin wünscht nun erst einmal frohe Ostern. Die nächste Postwurfsendung erscheint dann wieder wie gewohnt am ersten Freitag des kommenden Monats. Das dritte Kapitel finden Sie hier: