Vorwort
Der Übergang zwischen Wahrheit und Legende ist beim Alten Volk fließend. Dies ist zum einen dem Umstand geschuldet, dass das Alte Volk weder über Schriftgelehrte oder gar eine eigene Geschichtsschreibung verfügt und Wissen in erster Linie mündlich tradiert wird. Zum anderen sind inzwischen viele Arten des Alten Volkes in der uns bekannten Welt entweder ausgestorben oder haben sich in die Anderwelt des Nordens zurückgezogen.
So kann heute selbst ein erfahrener Folklorist nicht immer genau rekonstruieren, ob es sich bei so mancher Kreatur des Alten Volkes um eine Erfindung oder eine ausgestorbene beziehungsweise abgewanderte Spezies handelt. Es existieren deshalb vielerlei Lücken in unserem Wissen um das Alte Volk, die – so steht es zu befürchten – niemals mehr geschlossen werden können.
Um wenigstens das noch vorhandene Wissen zu bewahren, haben die Magischen Universitäten zu Venia und Moorberg im vergangenen Jahrhundert vielerlei Forschungsprojekte ins Leben gerufen, darunter etwa den wackeren (und bedauerlicherweise gescheiterten) Versuch der wohlgelobten Irmel Carpzov, ein Wörterbuch und eine Grammatik der Alten Sprache zu erstellen.
Vorliegendes Handbuch ist unter anderem Ergebnis der jahrelangen Forschungstätigkeit des Verfassers sowie der Feldstudie »Kobolde, Wichtel und Zwerge – kleinwüchsige Kreaturen des Alten Volkes im Klingengebirge und anderswo«. Es richtet sich nicht an den Laien oder gar an Einfaches Volk, sondern an Novizen und Experten der Folkloristik gleichermaßen und soll die wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Alte Volk und die Sagen, aus denen diese gewonnen wurden, an einem Orte versammeln. Eine Besonderheit ist deshalb der umfangreiche Sagenapparat im Anhang, der als direkte Quelle zu den einzelnen Einträgen des Handbuchs dienen soll.
Ausdrücklicher Wunsch des Autors ist es, dass das Handbuch zu einem getreuen Nachschlagewerk werde, das in keiner wissenschaftlichen Bibliothek zur Folkloristik fehlen möge, stets verbunden mit der Hoffnung, dass nachfolgende Generationen von Folkloristen Gelegenheit finden, es zu erweitern.
Ein Buch mit dergestalt ehrgeizigem Ziele zu verfassen, gelingt niemals alleine, sondern wurzelt in der Forschung und wissenschaftlichen Arbeit vorangegangener Gelehrter und ist Kraftanstrengung vieler. Der Autor dankt deshalb Emilia Wildanger, derzeit im Dienst in der Bärenhöhle verschollen, deren oftmals furchtloser Einsatz in der Feldforschung unschätzbare Beiträge zum Verständnis der Sitten und Gebräuche des Alten Volkes geleistet hat.
Anerkennung gilt auch den zahlreichen kritischen Rückmeldungen der Gutachter, den Adepten der Folkloristik meines Lehrstuhls für die Überprüfung der Quellen sowie Ladeck Wampp für das Korrektorat und Edelina Peletier für die Besorgung der Druckfahnen.
Meinem Doktorvater und Amtsvorgänger Koloman Bosco in stiller Verehrung zugedacht.
Theobald Mulzer
Venia im zweiten Monat des Jahres 1177
Warnhinweis der Indexbehörde:
Vorliegendes Nachschlagewerk enthält Sagen des Alten Volkes mit expliziten Darstellungen von Gestaltwandlermagie, verbotenen Praktiken der Elementarmagie und weiteren irrationalen Auswüchsen Alter Magie, Beschreibungen von barbarischen Gebräuchen und Sitten sowie zuletzt Schilderungen von Buhlschaften, die nicht den Leitfäden der Kuppeleibehörde entsprechen.
Die Lektüre ist deshalb ausschließlich examinierten Folkloristen zu wissenschaftlichen Zwecken gestattet.
Aus:
Theobald Mulzer, Handbuch sämtlicher Kreaturen, Erscheinungsformen und Sagengestalten des Alten Volkes nebst ihren Sitten und Gebräuchen. Zusammengetragen aus Überlieferungen des Alten Volkes, den aktuellen Stand der folkloristischen Forschung und Magischen Abstammungslehre widerspiegelnd. Mit umfangreichem Apparat aus kommentierten Sagen im Anhang.
Ein Fuchs in einer Koboldfalle
Sechster Monat des Jahres 1180 – Kurz vor der Sommersonnenwende
Der Exekutor, von dem unsere Geschichte handelt, war eine ganz und gar unselige Figur. Dessen waren sich alle Bewohner Jabluks, eines Außenpostens der Magischen Garde an der äußersten südöstlichen Grenze Droeglands, einig. Vor etwa drei Wochen war er dorthin versetzt worden, und nicht allein wegen des schwarzen, aus Maulwurf- und Katzenfell gesponnenen Dheamhanmantels, den er ungeniert anstelle des vorschriftsmäßigen schiefergrauen Gehrocks trug und dessen vormaligen Besitzer er angeblich eigenhändig erschlagen hatte, kreisten die scheußlichsten Gerüchte um ihn. Über den faden Rationen in der Feldkantine munkelten die niederen Ränge, er sei Teil einer anarchistischen Verschwörung gewesen und auf geheimnisvollen Wegen der Neutralisation durch die Inquisition des Bureaus entkommen. In der Offiziersmesse diskutierte man leise und obstbrandselig, ob er nicht der Bastard eines Erzmagiers des Magischen Konzils sein könnte, der lästig geworden war und darum diskret hatte verschwinden müssen. Was aber offenkundig fehlgeschlagen war, denn mindestens eine Marketenderin, draußen in den buntgestrichenen Hütten Jabluks, wusste zu berichten, dass der Exekutor, seinem feingliedrigen, drahtigen Körperbau zum Trotz, bald seit einem Jahrzehnt an den Rändern der Wälder Massiliens und Brekiliens oder hier im Niemandsland, kurz vor den Östlichen Salzsteppen, seinen Dienst tat. Was freilich mehr als erstaunlich war, denn der überwältigenden Mehrzahl der Exekutoren im Außendienst wurde im Verlauf des ersten Dienstjahres der Kopf von einer Striege abgerissen.
An welchem der kursierenden Gerüchte es auch liegen mochte – alle Bewohner Jabluks fühlten unbestimmte Furcht und misstrauische Abneigung in sich aufsteigen und schlugen heimlich das Zeichen gegen den Bösen Blick, wenn sie die unselige Gestalt des Exekutors auch nur in der Ferne erblickten. Dabei bekamen sie ihn ohnehin kaum zu Gesicht, denn der Exekutor hielt sich von sämtlichen Seelen Jabluks und von der Offiziersmesse fern. Tatsächlich sah man ihn eigentlich nur, wenn er hin und wieder in den frühen Morgenstunden aus der Puszta zurückkehrte und stracks in das Büro von Major Zetters lief, wo er einen blutig verschlagenen Ogerkopf in der Mitte des Schreibtisches platzierte und damit die ohnehin angegriffenen Nerven des Majors zunehmend zerrüttete. Deswegen hatte das Bureau den Exekutor nämlich nach Jabluk geschickt. Also nicht, um den Major Zetters zu enervieren, sondern weil in der Puszta eine Horde Oger hauste und in regelmäßigen Abständen die Soldaten, Kuriere und Rinderhirten dezimierte und man dies auf Dauer nicht leiden konnte.
An jenem Vormittag, der den Geschehnissen unserer Geschichte fast genau ein Jahr voranging, brannte die Sonne unerbittlich vom wolkenlosen Himmel herab und alle Bewohner Jabluks, von den Stallburschen über die Pferde bis hin zu Major Zetters, hatten Staub in Kehle, Ohren und Augen. Die beiden Ulanen, die ausgeritten waren, um die Koboldfallen zu prüfen, fanden den Exekutor im Schatten eines der spärlichen Büsche weit außerhalb von Jabluk. Obwohl sie inzwischen wussten, wo sie ihn suchen mussten, hätten sie ihn in der flimmernden Luft beinahe übersehen. Denn wenn man den Exekutor nicht dabei beobachtete, wie er Ogerköpfe in die Schreibstube des Majors trug, dann fand man ihn gut getarnt und lesend unter jenem Busch. Was ihn in den Augen der Bewohner Jabluks noch unheimlicher machte. Schließlich studierte er weder die pornographischen Heftchen, die unter den niederen Rängen in den Barracken zirkulierten, noch die Zeitungen, die für gewöhnlich – und nicht allein wegen der Oger – um Wochen zu spät in die Offiziersstuben von Jabluk geliefert wurden. Nein, der Exekutor las ein dickes ledergebundenes Handbuch sämtlicher Kreaturen, Erscheinungsformen und Sagengestalten des Alten Volkes. Den Schinken hatte er bei seinem letzten Einsatz aus der Bibliothek des Stadtmagiers von Podor aus Versehen mitgenommen, nachdem er dort einen Poltergeist vertrieben hatte. Dies alles wussten die beiden Ulanen natürlich nicht, ihnen war ein Buch suspekt genug.
Ebenso suspekt war ihnen, dass die Hitze, die in alle Ritzen drang und Jabluk und die Puszta in einen Backofen verwandelte, dem Exekutor nichts auszumachen schien. Derweil den beiden Ulanen in ihren Uniformen der Schweiß in Bächen den Rücken hinablief, stand ihm, obgleich er in den infamen Mantel gehüllt war, nicht eine Schweißperle auf der Stirn. Seine einzige Verneigung vor dem Wetter waren seine nackten Füße.
Der ältere der Ulanen stieß dem jüngeren den Ellenbogen in die Seite, woraufhin dieser nach vorne stolperte und stammelte: »Da ist was in eine der Koboldfallen gegangen.«
»Was braucht ihr da mich?«, fragte der Exekutor zwischen zwei Apfelbissen und ohne von seiner Lektüre aufzublicken.
»Es ist halt nicht bloß ein Kobold.«
»Na endlich«, erwiderte der Exekutor und warf den Apfelbutzen in einem unnatürlich weiten Bogen in die Puszta hinein. Anschließend kramte er einen zerknitterten Steckbrief hervor, den er vor einigen Jahren von der Mauer einer Poststation gerissen hatte, legte diesen zwischen die Seiten, klappte das Buch zu und verstaute es in einer dafür viel zu klein wirkenden Innentasche seines Mantels.
Der Exekutor hatte bereits darauf gewartet, gerufen zu werden. Schließlich nahte die Sommersonnenwende mit ihren merkwürdigen Vorkommnissen, die nun einmal rund um jenes denkwürdige Datum geschahen. Er erhob sich in aller Seelenruhe und schnallte die beiden Krummsäbel, die keiner der vorgeschriebenen Dienstwaffen auch nur im Entferntesten ähnelten, sondern geradezu nach einem der fliegenden Schwarzmärkte des Alten Volkes stanken, auf seinen Rücken. Dann folgte er den beiden Ulanen barfüßig hinaus in die Puszta.
Die Koboldfallen waren etwa fünf Jahrhunderte nach dem Ende des Hundertjährigen Krieges von Alchemisten entwickelt worden, als das Bureau allmählich begann, tauglich und harmlos erscheinende Geschöpfe des Alten Volkes einzufangen, um sie nach Möglichkeit zu zivilisieren und nützlichen Tätigkeiten zuzuführen. Anstelle eines Kobolds saß jedoch ein Fuchs in der Falle. Ein Fuchs, der deutlich größer als seine Artgenossen war und beinahe an das Körpermaß eines Wolfes heranreichte.
»Sollten wir ihm vielleicht eine Lanze in den Pelz jagen?«, fragte der ältere der beiden Ulanen. Sie hatten in sicherem Abstand zur Falle Stellung bezogen. Im Nachhinein betrachtet, wäre es wohl klug gewesen, dieses Angebot anzunehmen, doch der Exekutor schüttelte den Kopf. Da er bereits deutlich gefährlicheren Kreaturen gegenübergestanden war, hielt er den Fuchs für einigermaßen unbedenklich. Selbst wenn es sich bei dem Fang um einen der seltenen Róka, einen Werfuchs, handelte, würde er sich in seiner derzeitigen Lage nicht wandeln können. In die Stangen aus Kaltem Eisen waren nämlich Runen geritzt, die wie ein schlagendes Herz in regelmäßigen Abständen aufglimmten. Der eingerollte Fuchs zuckte im Takt dazu, denn die Falle war so beschaffen, dass sie die magische Essenz desjenigen, der in sie getappt war, gegen ihn wendete. Neugierig trat der Exekutor näher an die Falle heran. Aus einer Manteltasche hatte er zugleich einen weiteren Apfel gefischt und rieb diesen nun am Ärmel sauber. Als er hineinbiss, zuckte der Fuchs mit den Ohren und schlug die honiggelben Augen auf. Und fluchte höchst unschön. »Du hast mir gerade noch gefehlt, Loki Lügenspinner. Was machst du hier im Süden?«, bellte er kehlig in der Alten Sprache. Mit einem uralten Zorn, der aus den Tiefen der Zeiten, den Wurzeln der Welt selbst zu kommen schien, musterte der Fuchs den Exekutor, der wie vom Donner gerührt vor ihm stand. Plötzlich riss der Fuchs die Schnauze aus seinem prachtvollen Schwanz hoch und witterte. »Oh. Entschuldige, Kleiner. Ich hatte dich kurz für jemand anderen gehalten. Das liegt an diesem dreimal vermaledeiten Käfig, in dem ich seit Stunden festsitze. Der grillt mir das Hirn.« Der Fuchs setzte sich auf und legte seinen Schwanz artig um die Pfoten, sorgsam darauf bedacht, dass seine Ohrenspitzen nicht den Eisendeckel der Falle berührten. Noch immer zuckte er im Takt der Runen. Sein honiggelber Blick hielt den bernsteinfarbenen des Exekutors gefangen. Dem war, ohne dass er es bemerkt hatte, der angebissene Apfel aus der Hand gefallen.
»Du lässt mich jetzt besser hier raus, Kleiner«, knurrte der Fuchs. Zugleich zupfte würziger Duft nach Wald und wildem Tier am bisweilen hitzköpfigen Temperament des Exekutors, das ihn schon manches Mal dazu gezwungen hatte, sich vollkommen unbesonnen in Kalamitäten zu stürzen.
»Und weshalb sollte ich das tun?«, fragte der Exekutor, der sich mit einem Mal daran erinnerte, wie seine zahllosen Kindsmägde ihm stets sehr eindrücklich damit gedroht hatten, dass der Fuchs aus den Fabeln ihn eines schönen Tages fressen oder doch wenigstens zu den Winteralben in den Hohen Norden verschleppen würde.
Eine Lanze flog von hinten heran. Die Ulanen, der Alten Sprache nicht mächtig, verstanden zwar nicht, was der Fuchs sagte, doch spürten sie, dass etwas nicht stimmte. Allerdings verfehlte die Lanze ihr Ziel, denn der Exekutor fing sie mit einer lässigen Bewegung aus der Luft und ließ sie in Flammen aufgehen.
Der Fuchs verzog die Lefzen zu einem Grinsen. »Na, dann hör mir gut zu, denn ich werde es dir erklären.«