Nachdem wir in der vierten Postwurfsendung einen Blick auf den Schreibtisch der Kaps und in das neue Manuskript geworfen haben, gibt es von dort keine berichtenswerten Neuigkeiten, da erst im Laufe des Aprils richtig in die Überarbeitung eingestiegen wird.
Weshalb wir heute einmal mehr den Vorhang des Kabinetts der Wunder lüpfen und die geneigte Leserschaft in weiteres Hintergrundwissen zur haarigen Angelegenheit einweihen.
Die Leser erinnern sich sicher (zumindest hoffe ich das), dass unsere Heldin, dieweil sie beim angeschlagenen Filmstar im Tanzenden Keiler weilt, von der Dolhopf aus dem Buchladen des nicht allzu fernen Luftkurorts Lektüre überreicht bekommt. Damit sie beschäftigt ist und nicht wieder auf den Gängen umherstrolcht, während Fabian bei den verfluchten Dreharbeiten seiner Arbeit nachgeht.
Nun, jenes Buch mit der bebilderten Geschichte „von einer argentinischen Änderungsschneiderei und den Irrungen und Wirrungen und Hexereien, die den Grazien dort auf der Suche nach dem Froschkönig und der großen Liebe begegnen“ existiert tatsächlich.
Gefunden hatte ich das Buch (das leider zu einem Zeitpunkt angeschafft wurde, da ich das Kaufdatum aufgrund des rasant anwachsenden Bücherstapels der sogenannten Ungelesenen, nicht mehr in den Büchern vermerkte) wohl vor mindestens zehn Jahren in der Krabbelkiste eines Buchhändlers in Karlsruhe, wo ich zu Besuch weilte. Zu dem Zeitpunkt werkelte ich bereits an einer der vielen Versionen der haarigen Angelegenheit und da die Heldin darinnen nun einmal – neben anderem – Schneiderin ist, wurde das Buch tatsächlich auch als Inspiration hierfür käuflich erworben.
Nun handelt sich bei der Änderungsschneiderei Los Milagros allerdings um eines jener Bücher, das sich nicht wirklich mit gutem Gewissen frei heraus jedem anempfehlen lässt, da man entweder davon begeistert ist, oder überhaupt nichts damit anfangen kann. Für den potentiellen Leser ist es jedenfalls sicherlich hilfreich, den magischen Realismus der südamerikanischen Literatur zu kennen und vor allem auch zu mögen.
Ich selbst könnte jetzt nach dem zweiten Lesen (ja, ich habe mir für diese Postwurfsendung wirklich die Mühe gemacht) nicht einmal rundheraus sagen, welchem der beiden Lager ich angehöre. Die Abbildungen im Buch (in meiner Ausgabe sind sie sogar farbig) finde ich reizvoll. Am Ende jedes Kapitels steht ein thematisch passendes Bild, „Stoffmuster“ genannt. Es handelt sich um Originaldrucke von Abbildungen aus Romanen (Jules Verne, 20.000 Meilen unter dem Meer; Lewis Caroll, Alice im Wunderland), aus Comicheften über Superhelden, aus alten Fachbüchern rund um das Schneiderhandwerk und Holzschnitten aus einem Nachfolgewerk des berühmt-berüchtigten Hexenhammers aus dem Jahre 1489.
Dazwischen sind im Text Tarotkarten, Abbildungen von Reißverschlüssen, Landkarten, Busfahrkarten und vieles andere mehr eingestreut. Darüberhinaus gibt es viele typographische Besonderheiten, die über den gängigen Fett- und Kursivdruck hinausgehen.
Hier etwa der Auszug eines Kapitels, der eine Unterhaltung zwischen der Mutter (Spalte 1) und der Protagonistin (Spalte 2) wiedergibt, bei dem letztere an der Nähmaschine sitzt, deren Geräusche mit tktktktktk wiedergegeben werden, und nebenbei eine Radiosendung (Spalte 3) über das Bermudadreieck läuft. Letztere wiederum komplett entnommen aus: Charles Berlitz, Das Bermuda-Dreieck. Fenster zum Kosmos, München 1978.
Die Geschichte spielt außerdem mit Anagrammen, die Figuren haben dadurch mehrere Identitäten, und sie ist über weite Strecken in einer Art Bewusstseinsstrom geschrieben. Für meinen Geschmack insgesamt zu wenig von dem, das man gemeinhin als Plot bezeichnet, und das rätselhafte Ende hat mich eher unbefriedigt zurückgelassen. Weshalb das Buch definitiv zu den interessanteren in meinem Bücherschrank gehört, ich selbst die Geschichte aber vollkommen anders geschrieben hätte.
Im Gegensatz zur haarigen Angelegenheit ist der Roman Änderungsschneiderei Los Milagros also deutlich künstlerisch wertvoller. Es gibt neben all dem schon beschriebenen etwa ein ganzes Kapitel über Kakerlaken und deren obsessive Bekämpfung durch die Mutter der Protagonistin, für die es wohl ein mehrstündiges Literaturseminar bräuchte, um herauszufinden, welcher Zusammenhang zur Handlung besteht, oder welche Bedeutung dem innewohnt.
Nun fragen sich vermutlich alle, die die haarige Angelegenheit gelesen haben, warum Rosi sich ausgerechnet von der Lektüre dieses Romans durchaus angesprochen fühlte. Die Gründe hierfür mögen die folgenden sein:
Zunächst einmal gibt es in der Änderungsschneiderei Los Milagros eine schwarze Katze namens Mutatis Mutandis, die gerne Haarballen vor die Füße der Kundinnen (so auch vor die der mysteriösen Besitzerin des zu ändernden Brautkleids) kotzt. Zu dem Zeitpunkt, da Rosi das Buch liest, hat sie zwar Fabians Katze Diva noch nicht geerbt oder von deren Existenz erfahren, aber die zwei schwarzbepelzten Unheilsbringer haben zweifelsohne denselben Spirit.
Nicht nur die Bekämpfung von Kakerlaken findet ausgedehnten Raum, sondern auch der Schlachtvorgang und das Ausnehmen eines Suppenhuhns werden exzessiv beschrieben – und da unsere Heldin ja einer Dynastie von Schweinehändlern entstammt, deren Reichtum auf allen möglichen Arten der Fleischverarbeitung beruht, hat sie diesen Abschnitt sicherlich mit fasziniertem Schaudern gelesen.
Der wichtigste Punkt ist aber, dass die Hauptfigur Mariana Kleider aus französischen Modeheften nachschneidert und die Schnitte anhand der Fotos „abkupfert“. Und das ist etwas , das Rosi mit ihrem „Talent, in Kleider, Röcke, Blusen, Anzüge und Kostüme derart viel Pfiff und Schick hineinzunähen, dass sie die körperlichen Unzulänglichkeiten ihrer Träger in augenfällige Vorzüge verkehrten“, nachvollzieht und vermutlich auch selbst schon gemacht hat. Und auch die Obsession um Stoffe und deren Farben, die Mariana dazu antreibt unzählige Male drei Stockwerke rauf und runter zu laufen, um beim echten Tageslicht unten auf der Straße den perfekten Weißton für das Brautkleid zu finden, kann Rosi nachempfinden. Schließlich könnte sie Fabians Stylisten lange Geschichten darüber erzählen, „was sie anstellte, um alte Stoffe zu ergattern, wie man sie heutzutage eigentlich nicht mehr fand. Oder wo sie die Schnitte ausgrub.“
Abgesehen davon ist es – wenn nicht gerade geschossen wird oder Rosis brachiale Familie hereinbricht – die meiste Zeit über ziemlich langweilig im Tanzenden Keiler und Rosi ist nicht nur dankbar um jede Abwechslung, sondern die Änderungsschneiderei Los Milagros ist sicherlich besser als der Nackenbeißerroman, den ihr die Dolhopf vorher von der Frau des Aufnahmeleiters ausgeliehen hatte.
Noch eine kleine skurrile Nebenbemerkung am Rande: Maria Cecilia Barbetta ist Argentinierin, die bereits seit vielen Jahren in Berlin lebt und den Roman auf Deutsch geschrieben hat. Ihren zweiten Roman Nachtleuchten, der ungefähr dreimal so umfangreich ist wie die Änderungsschneiderei Los Milagros, allerdings keine Bilder und typographischen Besonderheiten hat, der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2018 stand und sich um die Atmosphäre am Vorabend eines politischen Umsturzes dreht, habe ich nicht mehr gelesen. Obwohl ich erst letzte Woche die Möglichkeit gehabt hätte, diesen in einer anderen Krabbelbox in einer anderen Stadt zu kaufen.
(Los Milagros heißt übrigens Die Wunder. Was ich tatsächlich erst im Zuge dieser Postwurfsendung nachgeschlagen habe. Damit ich nichts übersehe und es nicht peinlich wird. Wahrscheinlich ist es das jetzt trotzdem. Na ja. Immerhin habe ich nun auch noch etwas Neues gelernt. Wobei ich mich freilich immer darauf hinausreden kann, nur des Italienischen einigermaßen mächtig zu sein. Und da heißt Wunder nun mal miracolo.)
Da von der treuen Leserschaft der Postwurfsendungen bislang keine Jubelarien bei der Kaps eingetrudelt sind, muss an dieser Stelle folgendes Lob gezeigt werden:
Wobei zur Ehrenrettung unserer geschätzten Autorin gesagt sei, dass sie nicht selbstständig darauf gestoßen ist. Sondern dass sich die Lektorin danach auf die Suche begeben und es der Kaps zur Ermutigung und als Einstieg in die Verhunackelung des neuen Manuskripts übermittelt hatte. Ob dies hilfreich war, wird die Zukunft noch zeigen. Genauer die nächste Postwurfsendung, in der voraussichtlich wieder von den Aktualitäten und Plagen auf dem Schreibtisch der Kaps berichtet wird.
Und nach dieser etwas literaturwissenschaftlich angehauchten Postwurfsendung – ich verspreche, das wird nicht oft passieren – entlasse ich Sie auch diesmal wieder mit einer Weisheit aus der Wundertüte der Weltliteratur:
Tugend ist eine hervorragende Sache, und jeder sollte danach streben, aber sie kann manchmal etwas deprimierend sein.
(Barbara Pym, Vortreffliche Frauen)
Postskriptum
Diese Postwurfsendung ist übrigens genau ein Jahr nach dem allerersten Eintrag in den Nachtbüchern der Kaps, dem Startschuss zur Veröffentlichung der haarigen Angelegenheit als Fortsetzungsroman, in Ihrem elektronischen Postfach gelandet.
Und … sie ist quasi eine etwas ausführlichere Postkarte aus dem Urlaub. Die Kaps weilt nämlich gerade in den Bergen. Also quasi an einem Luftkurort. Nur ganz ohne Schnee, Schießereien oder einem Klavier im Brunnen. Dafür mit See.
Ach ja, da fällt mir noch ein – Sie kennen jemanden mit einem Faible für abstruses Zeug? Dann leiten Sie doch die Nachtbücher der Kaps weiter und klicken Sie hier: